Auktion: 550 / Evening Sale am 07.06.2024 in München Lot 122000467


122000467
Ernst Ludwig Kirchner
Im Wald, 1910.
Öl auf Leinwand
Schätzpreis: € 400.000 - 600.000
Informationen zu Aufgeld, Steuern und Folgerechtsvergütung sind ab vier Wochen vor Auktion verfügbar.
Im Wald. 1910.
Öl auf Leinwand.
Rechts oben signiert und datiert. 58 x 70 cm (22,8 x 27,5 in).

In dieser Auktion kommt auch das Gemälde "Zwei Menschen im Freien“ von Erich Heckel zum Aufruf, das gleichzeitig mit Ernst Ludwig Kirchners "Im Wald“ entsteht. [SM].

• Meisterwerk der "Brücke"-Malerei aus der Dresdener Zeit.
• Höhepunkt des gemeinschaftlichen Arbeitens und Lebens der Künstlergruppe, entstanden während der Aufenthalte an den Moritzburger Teichen.
• Die ungezwungene Aktdarstellung in unberührter Natur ist in ihrer Unmittelbarkeit eines der Leitthemen der "Brücke"-Kunst.
• Bereits kurz nach Entstehung ist das Gemälde im September 1910 Teil der legendären Ausstellung der Galerie Arnold in Dresden (laut Donald E. Gordon).
• In dieser Auktion kommt auch das Gemälde "Zwei Menschen im Freien“ von Erich Heckel (Los 25), das gleichzeitig mit Ernst Ludwig Kirchners "Im Wald“ entsteht, zum Aufruf
.

Das vorliegende Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ: Galerie Neupert, Zürich (verso mit dem Etikett).
Sammlung Werner Brunner, Sankt Gallen (1953 vom Vorgenannten erworben).
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel, Lugt 6032).

AUSSTELLUNG: Dresden 1910, Nr. 26 (dort unter dem titel "Landschaft").
E. L. Kirchner und Rot-Blau, Kunsthalle Basel, 2.9.-15.10.1967, Kat.-Nr. 16.
E. L. Kirchner. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgraphik, Kunstverein in Hamburg, 6.12.1969-25.1.1970; Frankfurter Kunstverein, Frankfurt a. Main, 6.2.-29.3.1970, Kat.-Nr. 19 (m. Abb., Nr. 34).
Künstler der Brücke an den Moritzburger Seen 1909-1911, Brücke-Museum Berlin, 1.10.-15.12.1970, Kat.-Nr. 33 (m. Abb., S. 17).
Paul Gauguin. Das verlorene Paradies, Museum Folkwang, Essen, 17.6.-18.10.1998; Neue Nationalgalerie, Berlin, 31.10.1998-10.1.1999, Kat.-Nr. E 5 (m. Abb.).
Frauen in Kunst und Leben der "Brücke", Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig, 10.9.-5.11.2000, Kat.-Nr. 52 (m. Abb. S. 138).
Die Brücke in Dresden 1905-1911, Dresdner Schloss, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister, 20.10.2001-6.1.2002, Kat.-Nr. 266 (m. Abb., S. 221).
Die "Brücke" und die Moderne 1904-1914, Bucerius Kunst Forum, Hamburg, 17.10.2004-23.1.2005, Kat.-Nr. 133 (m. Abb., S. 158).
Im Rhythmus der Natur: Landschaftsmalerei der Brücke, Städtische Galerie, Ravensburg, 28.10.2006-28.1.2007, S. 83 (m. Abb. S. 82).
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina Wien, 1.6.-26.8.2007, Kat.-Nr. 144 (m. Abb., S. 229).
Der Blick auf Fränzi und Marcella. Zwei Modelle der Brücke-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein, Sprengel-Museum, Hannover, 29.8.2010-9.1.2011; Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), 6.2.-15.2011, Kat.-Nr. 81 (m. Abb., S. 111).
"Keiner hat diese Farben wie ich". Kirchner malt, Kirchner-Museum, Davos, 4.12.2011-15.4.2012, S. 29 (m. Abb.).
Brückenschlag: Gerlinger – Buchheim!, Buchheim Museum, Bernried, 28.10.2017-25.2.2018, S. 184-187 (m. Abb.).

LITERATUR: Nachlass Donald E. Gordon, University of Pittsburgh, Gordon Papers, series I., subseries 1, box 1, folder 143.
Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde, München/Cambridge (Mass.) 1968, S. 69 u. 294, Kat.-Nr. 142 (m. Abb.).
- -
Leopold Reidemeister, Künstler der Brücke an den Moritzburger Seen 1909-1911. Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, in: Ausst.-Kat. Künstler der Brücke an den Moritzburger Seen 1909-1911, Brücke-Museum, Berlin 1970, S. 18.
Mario-Andreas von Lüttichau, Künstlergemeinschaft "Brücke", in: Ausst.-Kat. Stationen der Moderne. Die bedeutendsten Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Berlinische Galerie, Berlin 1988/89, S. 90 (m. Abb., Nr. 1/8).
Heinz Spielmann (Hrsg.), Die Maler der Brücke, Sammlung Hermann Gerlinger, Stuttgart 1995, S. 153, SHG-Nr. 147 (m. Abb., S. 153).
Heinz Spielmann, Die Brücke und die Moderne 1904-1914, in: Vernissage Nord, Ausstellungen Herbst/Winter, 2004/05, S. 8 (m. Abb.).
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke, Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 316, SHG-Nr. 712 (m. Abb.).
Franz Schwarzbauer, Andreas Gabelmann (Hrsg.), Im Rhythmus der Natur: Landschaftsmalerei der "Brücke". Meisterwerke der Sammlung Hermann Gerlinger, Ostfildern 2006, S. 23ff.
Volkmar Billig, "Gefilde der Seligen". Zur Inselfaszination der "Brücke"-Künstler, in: Christoph Wagner, Ralph Melcher (Hrsg.), Die "Brücke" und der Exotismus. Bilder des Anderen, Berlin 2011, S. 21 (m. Abb., Nr. 4, S. 23).

"Die Landschaft kannten wir schon längst, und wir wussten, daß dort die Möglichkeit bestand, unbehelligt in freier Natur Akt zu malen [..]. Wir lebten in absoluter Harmonie, arbeiteten und badeten. Fehlte als Gegenpol ein männliches Modell, so sprang einer von uns dreien in die Bresche."
Hermann Max Pechstein, Erinnerungen, 1993, S. 41.


Die rasant fortschreitende Urbanisierung in Deutschland und die Suche nach einer ursprünglichen Lebensweise der "Brücke"-Künstler
Die Beschleunigung und das Ausmaß der Urbanisierung in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert brachte antiurbane Reformideen hervor. Es wurde etwa eine Therapie mit Sonnenbädern und frischer Luft empfohlen, um dadurch eine "Heilung" der modernen Gesellschaft zu erreichen. Im selben Jahr, in dem sich die Künstler der "Brücke" als Gruppe formierten (1905), wurde auch eine Gesellschaft gegründet, die die Erholung im Wald und an der frischen Luft in der Umgebung von Dresden propagierte. Überdies entstanden in jener Zeit außerhalb der Stadt auf dem Land mehrere Badeorte für Nudisten (vgl. Jill Lloyd, German Expressionism, Primitivism and Modernity, 1991, S. 110f.).

Kirchner und die anderen "Brücke"-Künstler griffen das Credo dieser reformistischen Ideen auf und verschmolzen es mit ihrem eigenen Bestreben, die Kunst und Kultur ihrer Zeit zu erneuern. Zusammen mit den "Brücke"-Künstlern Erich Heckel und Max Pechstein sowie einer Gruppe von Freunden und Modellen verbrachte Kirchner den Sommer 1910 in Moritzburg, wo sie malten und in den Teichen im Wald nackt badeten. Die Künstler versuchten hier ihre Vorstellungen einer 'ursprünglichen' Lebensweise auszuleben, die von Artefakten aus dem Dresdner Völkerkundemuseum inspiriert wurden, aber auch von den Ausstellungen über Dörfer von 'Ureinwohnern' im Dresdner Zoo – die das Interesse des deutschen Publikums am deutschen Kolonialismus befördern sollten. Kirchner hatte diese ebenfalls besucht und Skizzen angefertigt. In den Wäldern und Seen um Moritzburg stellten die Künstler häufig ihre Staffeleien nebeneinander auf, um dieselbe Szenerie festzuhalten: Daher ist das nackte Paar auf Kirchners Gemälde "Im Wald" auch auf Heckels "Zwei Menschen im Freien" (1909/10) zu sehen. Die nackte Frau auf der linken Seite verschränkt ihre Arme ebenfalls auf schützende Weise vor ihrer Brust und die rote und gelbe Farbgebung der Körper ist ebenfalls ähnlich. Der leger gekleidete Mann im Vordergrund von Kirchners Gemälde ist vielleicht sogar Erich Heckel, der zu seiner Staffelei läuft, um seine eigenen Pinsel und Farben zur Hand zu nehmen.

Die Verschmelzung der Figuren mit der sie umgebenden Natur
Die skizzenhaften und androgynen Aktfiguren auf Kirchners Gemälde verschmelzen teilweise mit der sie umgebenden Natur. Ihre Umrisse korrespondieren mit dem Geäst der Bäume, die Figur mit den überkreuzten Armen fügt sich farblich in die sonnenbeschienene Waldlichtung ein und die Pinselführung ist insgesamt flüchtig und spontan. Das grüne Jackett und die dunkel gehaltenen Beine der Figur im Vordergrund verschmelzen ebenfalls mit den Farben des sie umgebenden Waldes, während Spuren von komplementärem Rot auf den Händen und dem Gesicht des Mannes die Farbkomposition aufhellen und ihn chromatisch zu den Aktfiguren in Bezug setzen. Kirchner setzte hier seine schnelltrocknenden Ölfarben (mit Benzin verdünnt und mit einer Beigabe von Wachs, welches ihre Leuchtkraft verstärkte) ein, als würde er Wasserfarben auf eine Zeichnung aufbringen. Die sichtbaren Stellen der weiß grundierten Leinwand, ähnlich wie bei den weißen Blättern in seinen Skizzenbüchern, geben der Oberfläche des Gemäldes eine luftige Anmutung und verstärken die Leuchtkraft der Farben. Die kleinen weißen, durchblitzenden Stellen der Leinwand verleihen der Szenerie ein gewisses Funkeln, so als würde das Sonnenlicht schräg durch die Bäume fallen.


Moderne Unmittelbarkeit und historische Bezüge

Trotz Kirchners flüchtiger, spontaner Malweise und -technik hat sein Sujet doch kunsthistorische Bezüge. Die Verbindung aus der bekleideten männlichen Figur mit den Akten erinnert an Edouard Manets berühmtes Gemälde "Dejeuner sur l’herbe" (1863, Musée d'Orsay, Paris), das einen enormen Skandal auslöste, als es erstmals in Paris ausgestellt wurde, da die nackte Frau im Vordergrund eindeutig eine junge Frau jener Zeit war, die gerade ihre Kleider abgelegt hat, und nicht etwa eine der Zeit enthobene arkadische Nymphe. Auch Kirchner will jegliche arkadischen Assoziationen vermeiden und seinem Sujet eine moderne Unmittelbarkeit verleihen; dabei geht er sogar so weit, keine professionellen Modelle zu engagieren, da diese nur die an der Akademie eingeübten, starren Posen einnehmen würden. Er zieht es hingegen vor, seine Künstlerfreunde und Freundinnen zu malen. Die Figur mit den über der Brust gekreuzten Armen (auf Heckels Gemälde ist es eher ein Mädchen) erinnert jedoch an traditionelle Darstellungen von Eva im Garten Eden, die sich plötzlich ihrer Nacktheit bewusst wird, nachdem sie von der verbotenen Frucht gekostet hat. Auf indirekte Weise verweist das Bestreben des Mädchens, seine Brüste mit den Armen zu bedecken, vielleicht aber auch auf einen Vorfall, den Pechstein in seinen Memoiren beschreibt. Demnach wurden die Künstler und ihre nackten Modelle einmal von Polizisten überrascht, die ihnen unsittliches Verhalten in der Öffentlichkeit zur Last legten. (Max Pechstein, Erinnerungen, hrsg. v. Leopold Reidemeister, 1960, S. 41f.)

Obwohl die Anschuldigung nach einer kurzen Befragung zurückgenommen wird, suchen die Künstler in der Folge eine entlegenere Stelle auf einer der Inseln in den Moritzburger Teichen auf, um dort zu malen und nackt zu baden. Im Gesamtkontext von Kirchners Werk, welches zwischen Darstellungen urbaner Komplexität und befreiter Nacktheit in der Natur oszilliert, könnte "Im Wald" jedoch als bewusste Anspielung auf die Schwierigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit verstanden werden, in der modernen Welt zu einer 'ursprünglichen' Unschuld zurückkehren zu wollen.

Jill Lloyd (aus dem Englischen übersetzt von Jeremy Gaines)



122000467
Ernst Ludwig Kirchner
Im Wald, 1910.
Öl auf Leinwand
Schätzpreis: € 400.000 - 600.000
Informationen zu Aufgeld, Steuern und Folgerechtsvergütung sind ab vier Wochen vor Auktion verfügbar.