Um 1909, inmitten der Dresdener "Brücke"-Jahre, findet Kirchners Interesse und Faszination für den Tanz in Form von Zeichnungen, Druckgrafiken und Gemälden von Tänzerinnen und Tänzern Eingang in sein vielschichtiges Œuvre, in dem das Varieté, der Tanz und die Bewegung selbst in den darauffolgenden Jahren bis zu Kirchners Spätwerk der 1930er Jahre zu absolut bedeutenden Motivkreisen avancieren.
Erste Skizzen entstehen während Kirchners zahlreichen Besuchen in Tanzcafés und Nachtlokalen, bspw. im Central Theater oder im Victoria Salon, unmittelbar während der Vorstellung, bevor sie der Künstler dann im Atelier zu kompositorisch durchdachten, nicht minder dynamisch-bewegten Darstellungen weiterentwickelt.
Das hier angebotene Pastell nimmt uns mit seiner Realistik des leichten, geradezu immateriellen Spiels der Linien, Schraffuren und Farbsetzungen sofort gefangen. Kirchner sieht den Körper der Tänzerin in einem ausklingenden Höhepunkt der Bewegung: einem Verharren zwischen Aufschwung und Ausklingen der Spannung, jenem winzigen Moment, in dem die Tanzbewegung ihre Vollendung findet. Die Tänzerin verharrt nur einen kleinen, unmerklichen Augenblick und scheint auf der Bühne zu schweben, so als stünde die Zeit still.

Der Tanz im Allgemeinen, aber insbesondere der erotische Tanz fasziniert Kirchner. Körperliche Vitalität öffnet sich selbstergeben und zeigt sich unverfälscht dem Betrachter. In der temporeichen Bewegung hebt sich der Rock der Tänzerin und gibt den Blick frei auf die gerüschte Unterwäsche. Die Bühne ist mit nur wenigen skizzierten Requisiten treffend beschrieben. Kirchner vereint die Tanzaufführung in einem glühenden Farbenrhythmus. Er gibt uns das Gefühl, an diesem aufregenden Abend mit elegantem Tanz und aufreibender Musik teilzuhaben. Nicht nur mit dieser körnigen, spröden Pastell- und Farbkreide-Zeichnung würdigt Kirchner die eindrucksvolle Darbietung im Varieté. Weitere Zeichnungen dieser Tänzerin entstehen in ähnlich schnellem Duktus, welche die unterschiedlichen, choreografisch anspruchsvollen Posen der Tänzerin auf Papier ausarbeiten. Zuletzt findet sich das vor Ort skizzierte und in unseren Darstellungen weiter durchdachte Erlebnis in dem großartigen Gemälde "Varieté (Englisches Tanzpaar)“ (um 1909/10–1926, Städel Museum, Frankfurt a. Main) wieder, auf dem die Tänzerin von ihrem Partner elegant über die Bühne geführt wird. [MvL/CH]