Auktion: 545 / Evening Sale am 08.12.2023 in München Lot 57


57
Ernst Ludwig Kirchner
Alphütten und Tinzenhorn, 1919/20.
Öl auf Jute und Baumwolle
Schätzung:
€ 600.000
Ergebnis:
€ 1.076.500

(inklusive Aufgeld)
Alphütten und Tinzenhorn. 1919/20.
Öl auf Jute und Baumwolle.
Verso auf der Leinwand mit dem Nachlassstempel mit der Bezeichnung "Da / Aa 11". 88,5 x 120,5 cm (34,8 x 47,4 in).

• Nach seinem psychischen Zusammenbruch verhelfen ihm die magischen Naturphänomene und die friedliche Bergwelt zu seiner Genesung und neuer malerischer Kraft.
• Mit einer gewaltigen Farbpalette fängt Kirchner den flüchtigen Moment der glühenden Bergwelt ein.
• Auf der Stafelalp entstehen die bedeutendsten Werke seines "neuen" Lebens.
• Seit über 70 Jahren in ein und derselben Privatsammlung.
• Seit der Ausstellung "Farbenmensch Kirchner" Dauerleihgabe in der Pinakothek der Moderne, München.
• In seltenem Originalrahmen
.

PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers (verso mit dem Nachlassstempel).
Ernesto Blohm, Caracas (1954 durch Georg Schmidt, Basel, vom Vorgenannten erworben, seitdem in Familienbesitz).

AUSSTELLUNG: Ernst Ludwig Kirchner. Gemälde und Graphik aus der Davoser Zeit, Kunsthaus Chur, 19.7.-19.-9.1953, Kat.-Nr. 9 (hier betitelt: Blaue Alphütte vor rosa Bergen).
Expresionismo en alemania, Asociacion cultural Humboldt, Fundacion Eugenio Mendoza, November/Dezember 1959, Kat.-Nr. 29.
Ernst Ludwig Kirchner aus Privatbesitz, Richard Kaselowsky-Haus, Bielefeld [1969], Kat.-Nr. 15.
E. L. Kirchner. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgraphik, Kunstverein in Hamburg, 6.12.1969-25.1.1970, Frankfurter Kunstverein, Frankfurt a. Main, 6.2.-29.3.1970, Kat.-Nr. 48, Farbtaf. 11.
Ernst Ludwig Kirchner. Privatsammlung, Galerie Günther Franke, München, 5.5.-Anfang Juni 1970, Kat.-Nr. 3, Farbabb. S. 43.
Farbenmensch Kirchner, Pinakothek der Moderne, München, 22.5.-31.8.2014, Kat.-Nr. 18, Farbabb. S. 148.
Dauerleihgabe Bayerische Staatsgemäldesammlungen / Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne (2014-2023).

LITERATUR: Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner, Cambridge (MA) 1968 (engl. Ed.), WVZ-Nr. 601, S. 353.

Ernst Ludwig Kirchner, Fotoalbum III Foto 318.
E. L. Kirchner. Dokumente, Fotos, Schriften, Briefe, Ausst.-Kat. Museum der Stadt Aschaffenburg u .a., Aschaffenburg 1980, Abb. S. 182.
Heide Skowranek, Patrick Dietemann, Christoph Kreket und Heike Stege, "Einfacher und doch leuchtender" – Kirchners Farben, in: Farbenmensch Kirchner, Ausst.-Kat. Pinakothek der Moderne München, Berlin 2014, S. 127-141, Abb. S. 139 u. Farbabb. 11.




Auf dem Weg nach Davos

Am 19. Januar 1917 erreicht Ernst Ludwig Kirchner von Berlin kommend zum ersten Mal das Hochplateau; trotz zweier Aufenthalte im Sanatorium in Königstein unter der Betreuung von Oskar Kohnstamm bleibt Kirchner seelisch und körperlich angegriffen, sein Gesundheitszustand ist lebensbedrohend. "Ich habe immer den Eindruck eines blutigen Karnevals. Wie soll das alles enden? Man fühlt, dass die Entscheidung in der Luft liegt, und alles geht drunter und drüber. [..] Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg. [..] Der Wahnwitz des Krieges ist unglaublich. [..] Vielleicht gelingt es mir doch Herr zu werden über die Dinge. Neu anfangen [..]", schreibt Kirchner an seinen Vertrauten und Verfasser seines Werkverzeichnisses für die Druckgrafik, Gustav Schiefler, am 12. November 1916 nach Hamburg (zit. nach: Ernst Ludwig Kirchner Gustav Schiefler. Briefwechsel 1910-1935/38, hrsg. von Wolfgang Henze, Stuttgart und Basel 1990, Nr. 65, S. 83).
Einen Monat später, im Dezember 1916, bittet Kirchner um Aufnahme in die von Karl Edel geführte Nervenklinik "Asyl für Gemütskranke" in Berlin-Charlottenburg; Anfang 1917 verlässt er die Klinik wieder. Der mit Kirchner befreundete Philosoph Eberhard Grisebach, verheiratet mit einer Tochter des Ehepaars Spengler in Davos, setzt sich inzwischen erfolgreich ein für eine Betreuung durch seine Schwiegermutter, Helene Spengler, und deren Mann, dem Lungenfacharzt Lucius Spengler. Die klare Luft, die reine Natur und die Abgeschiedenheit fern vom Kriegsgrollen soll ihm Linderung verschaffen. Aber in Davos ist es kalt, wie seit langem nicht mehr, verordnete Spaziergänge sind dem Geschwächten unmöglich. Am 4. Februar reist Kirchner nach Zürich, besucht im Kunsthaus die permanente Hodler-Präsentation und besteigt am 6. Februar den Zug zurück nach Berlin.

Das Leben in den Bergen

Er trifft am 8. Mai 1917 das zweite Mal in Davos ein, um, wie er an den befreundeten Architekten und Designer Henry van de Velde bemerkt, "meine Kur zu vervollständigen". Den Sommer über wohnt Kirchner mit einer Krankenschwester in der "Rüesch-Hütte" auf der Stafelalp oberhalb von Frauenkirch. Obwohl er zeitweise unter Lähmungen leidet und seine Briefe nicht selbst schreiben kann, entstehen Landschaften und Bildnisdarstellungen von seiner neuen Lebensumgebung, geprägt von einer ungebrochenen, elementar kämpferischen Kraft. Und dennoch leidet Kirchner weiter unter alptraumartigen Ängsten; er kommt nicht zur Ruhe. Henry van de Velde kann Kirchner nach einem Besuch auf der Stafelalp überreden, sich dem Psychiater und Psychoanalytiker Ludwig Binswanger anzuvertrauen. Ab Mitte September 1917 verbringt Kirchner zehn Monate im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee. Von seinem Sanatoriumsaufenthalt in Kreuzlingen kehrt Kirchner also im Juli 1918 nach Davos zurück und bewohnt die ihm von Martin Schmid überlassene Hütte auf der Stafelalp; erst Ende September 1918 zieht Kirchner in ein winterfestes Bauernhaus, welches ihm die Familie Müller aus der Hofgruppe "In den Lärchen" oberhalb der "Längmatte" in Frauenkirch zur Verfügung stellt. Kirchner identifiziert sich mit seiner direkten Umgebung, lebt im Grunde wie die Sennbauern und Hirten mit den Tieren auf der Alm; er fotografiert die Landschaft, fotografiert seine Mitmenschen, die ihm neugierig und wohlwollend begegnen: dem Sonderling aus Berlin. Er wird dortbleiben und sich einrichten, ein Atelier aufbauen, peu à peu seine in Berlin verbliebenen Bilder herholen und gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling nach Davos übersiedeln. Die neue Umgebung nimmt vehementen Einfluss auf das Leben und das Werk des Künstlers. Er scheint die gesuchte Ruhe für sich zurückzugewinnen, die den Künstler bewegende und großartige 'Porträts' dieser atemberaubenden Berglandschaft malen lässt: "Stafelalp bei Mondschein" (Museum am Ostwall, Dortmund), "Rückkehr der Tiere, Stafelalp", 1919 (Kunstmuseum Basel), und auch die "Alphütten und Tinzenhorn" hier sind die Titel der neuen Motive. Kirchner verehrt die Landschaft, huldigt dem entbehrenden Leben der Bauern mit ihren Tieren, die ihren Hirten folgen auf dem steilen Weg von der Alp zurück ins Dorf: eine betörende Inszenierung voll wunderbarer Farbkontraste. Mit dem Triptychon "Alpleben" (Kirchner Museum, Davos) würdigt er das Leben und den Alltag der Bauern in dieser Umgebung, die ihn, den seelisch Zerrissenen, wieder erdet. Am 5. Juli 1919 schreibt er an van de Velde: "Ich bin sehr froh und glücklich hier zu sein und zu bleiben. Hier kann ich wenigstens in den guten Tagen etwas arbeiten und ruhig unter diesen einfachen und guten Menschen sein. Ich habe mir hier in der Einsamkeit den Weg erkämpft, der mir eine Fortexistenz bei diesen Leiden ermöglicht. Meine Zeiten des Zirkus, der Kokotten und der Gesellschaft sind vorbei [..]" (Kirchner an Henry van de Velde, zit. nach: Hans Delfs (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel, Zürich 2014, Brief Nr. 755).
So wie Kirchner in Dresden die Stadt, das Atelier, die Moritzburger Weiher zum Thema seiner Kunst macht, in Berlin sein Augenmerk auf das Nachtleben in den Straßen, in den Varietés richtet, so gewinnt er seinem neuen Zuhause viele künstlerische Facetten ab, ersetzt etwa der "herrliche Spaziergang am Nachmittag fast bis auf die Kummeralp" (Lothar Grisebach/Lucius Grisebach (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Davoser Tagebuch, Ostfildern-Ruit 1997, S. 36) sein unruhiges Flanieren über die Berliner Plätze. Die Umstellung fällt ihm schwer: "das unmittelbare Leben ohne künstliche Stilisierung in einen Teppich zu bringen und doch das Leben mit dabei zu haben. Ich muss es doch immer und immer wieder versuchen. Ich fange ganz farbig an mit Farbflächen, dann kommt erst die Zeichnung hinzu, so gelangen meine letzten Berliner Bilder. Aber ich muss viel mehr zeichnen nebenbei, so wie ich damals es tat. Nur, wer nimmt mir die schreckliche Krankheit, die immer und immer kommt und mich herauswirft? Am ganzen Nachmittag und die böse Nacht. Wer nimmt sie mir? Ich gebe alles drum. [..] Jedenfalls keine Kraft für die grosse Leinwand mehr vorhanden. [..] Violett zu malen, reizt mich jetzt ungeheuer [..]. Violett, Rot, Grün malen zu können", hält er in seinem Tagebuch fest (ebd., S. 31). So wird das Alpleben auf der Stafelalp wie einst in Berlin die Straßenszenen zum zentralen Thema Kirchners in den ersten Jahren seines 'neuen' Lebens in Davos und auf den Almen in den umliegenden Bergen.
Beeindruckt von der im Schatten liegenden Natur, schildert Kirchner die steil ansteigende Alm mit der "Alphütten" seinen Blick auf die sanft hügeligen, von groben Felssteinen durchwebten Wiesen mit der vom Wetter gezeichneten Holz der Hütte im Abendlicht, zeichnet den schmalen Weg entlang des Hangs hinauf auf das nahe Plateau, wo weitere Hütten stehen, vorbei an einem von kaltem, fließendem Wasser gespeisten Brunnen. Das Licht des schattigen Abends legt sich über die Alm, lässt das Holz der Hütte in violetten, kobaltblauen und rosa Tönen leuchten, gibt dem Grün der Wälder und hügeligen Wiesen Kontur. Von dem untergehenden Sonnenlicht strahlend beleuchtet die Bergkulisse 'Altein' auf der anderen Seite des Tales mit dem allpräsenten, markanten Tinzenhorn im Abendlicht der Sonne. Die Abendstimmung wird getragen von Kirchners noch ein wenig an Berlin erinnernder Farbpalette, die starken Kontraste zwischen Blau, Rosa, leuchtendem Gelb, dunklem bis schwarzem Grün. Bisweilen ahnt man noch den für die Berliner Zeit nervösen, systematisch gesetzten Pinselstrich, den Kirchner immer mehr zur Fläche zwingt und damit die Details der Natur zusammenzieht. Man spürt Kirchners Ringen, die Faszination für die neue Bergwelt in Malerei umzusetzen, aber auch mit seiner Pinselschrift die Natur neu zu 'erfinden'. Ihm, Kirchner, werden die Bergbewohner zu Freunden, die er fotografiert, deren Lebensraum er in den frühen Davoser Landschaftsbildern ein erlebtes Gedenken setzt. Auch fotografiert Kirchner die Stafelalp im Blick von seiner Sommerhütte und übernimmt die Motive für seine Sicht auf das Bergdorf. Wie in den Gemälden, die noch in Berlin oder auf Fehmarn entstehen, entwickelt Kirchner mit deutlichen Farbverschiebungen und komprimierenden Perspektivsprüngen auch für die ersten Davoser Landschaften die ihm eigene Dynamik, die den Insel- und Berliner Stadt-Expressionismus auf den Expressionismus in den Bergen überträgt: das köstliche Lila, das intensive Kobaltblau, der Kontrast von Blau, Grün und Rosa. Kirchner entwickelt zusehends seinen Davoser Stil und entfernt sich immer weiter vom ursprünglichen "Großstadtexpressionismus" der Dresdner und Berliner Zeit.

Ein künstlerischer Umbruch

Mit der Stabilisierung seiner Gesundheit und Festigung der Lebensverhältnisse beruhigt sich auch sein seelischer Zustand. Das unmittelbare Erlebnis der Berge soll von nun an im Mittelpunkt seiner Kunst stehen. Der Eindruck der Schweizer Alpen führt bei Kirchner nicht nur zu seelischer Stabilisierung, sondern auch zu erneuter Kreativität. Kirchner ist sich dieser positiven Wirkung seiner neuen Umgebung vollkommen bewusst, wenn er 1919 konstatiert: "Der gute van de Velde schrieb mir heute, ich solle doch lieber wieder ins moderne Leben zurück. [..] Das ist für mich ausgeschlossen. [..]. Ich habe hier ein reiches Feld für meine schöpferische Tätigkeit, dass ich es gesund kaum bewältigen könnte, geschweige denn heute. Die Welt in ihren Reizen ist überall gleich, nur die äußeren Formen sind andere. Und hier lernt man tiefer sehen und weiter eindringen als in dem sogenannten 'modernen' Leben, das meist trotz seiner reichen äußeren Form so sehr viel oberflächlicher ist." (zit. nach: Lucius Grisebach, Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938, Köln 1995, S. 153). Die Ruhe der Szenerie, die Kirchner in "Alphütten und Tinzenhorn" eingefangen hat, wird durch die leuchtend-expressive Farbigkeit, den energischen Duktus und die überspitzt wiedergegebene Architektur der Berghütte und der sie umgebenden Almwiesen durchbrochen. In dieser Balance zwischen Ruhe und Aufgewühltheit erscheint die dargebotene Szenerie zu einem eindrucksvollen Psychogramm gesteigert. [MvL]



57
Ernst Ludwig Kirchner
Alphütten und Tinzenhorn, 1919/20.
Öl auf Jute und Baumwolle
Schätzung:
€ 600.000
Ergebnis:
€ 1.076.500

(inklusive Aufgeld)