Auktion: 545 / Evening Sale am 08.12.2023 in München Lot 29


29
Pablo Picasso
Guéridon, guitare et compotier, Wohl 1920.
Gouache und Tusche
Schätzung:
€ 250.000
Ergebnis:
€ 355.600

(inklusive Aufgeld)
Guéridon, guitare et compotier. Wohl 1920.
Gouache und Tusche.
Links oben signiert. Auf Velin. 26,9 x 20,7 cm (10,5 x 8,1 in), Blattgröße.

• Das Jahr 1920 markiert eine der stilistisch variantenreichsten und experimentellsten Phasen des Ausnahmekünstlers.
• Im Sommer 1919 beginnt er eine Serie von Gouachen, die sich durch die Experimentierfreudigkeit mit den Möglichkeiten des synthetischen Kubismus auszeichnen.
• Die Gitarre ist für den spanischstämmigen Maler von besonderer Bedeutung: Musikinstrumente werden zum zentralen Motiv der kubistischen Stillleben.
• Bedeutende Provenienz: einst im Besitz von Hilde Prytek, Leiterin der progressiven Galerie Nierendorf in New York; nun erstmals auf dem Auktionsmarkt angeboten.
• Stillleben der kubistischen Phase befinden sich weltweit in den bedeutendsten Sammlungen, darunter das Museum of Modern Art, New York, das Solomon R. Guggenheim Museum, New York, das Centre Pompidou, Paris, sowie die Tate Gallery, London.
• 2023 wird Picasso zum 50. Todestag weltweit mit Ausstellungen geehrt
.

Das Werk wurde Paloma Ruiz-Picasso, Paris, im Oktober 2023 zur Begutachtung vorgelegt. Das Ergebnis lag bei Drucklegung noch nicht vor.

PROVENIENZ: Hilde Prytek (1908-1961), New York (anschließend in Familienbesitz).
Privatsammlung Nordrhein-Westfalen (1990 von Vorgenannten als Geschenk erhalten).


"Er ändert seine Richtung, kehrt auf seinen Spuren zurück, neuerdings noch festeren Schrittes, wird stets größer, gewinnt Kraft aus dem Kontakt mit noch unentdeckter Natur oder durch den Vergleich mit ebenbürtigen Meistern der Vergangenheit."

Guillaume Apollinaire

Olga und Pablo Picasso in Saint-Raphaël
Picassos Kreativität ist immer auch gemischt mit Autobiografischem. So darf man zweifellos annehmen, dass dieses Stillleben "Guéridon, guitare et compotier" mit einem Besuch in Saint-Raphaël an der französischen Mittelmeerküste in Südfrankreich zusammenhängt, den Picasso im Spätsommer 1919 zusammen mit der russischen Tänzerin Olga Khokhlova, seiner ersten Frau, dort verbringt. Picasso lernt sie 1917 in Rom als Mitglied der Tanztruppe Sergei Diaghilevs kennen und sie heiraten 1918. In Erinnerung an diese Ferien entsteht, wohl eher in Paris und nicht vor Ort, ein Stillleben vor einem typisch mediterranen, bis auf den Boden reichenden Fenster. Ein Thema, das, so möchte man meinen, durch die Nachbarschaft zu Henri Matisse, der seit drei Jahren in Nizza wohnt, angeregt ist. Von Matisse kennen wir verschiedene Ansichten seiner Hotelzimmer mit Blick auf das Mittelmeer, die Picasso vielleicht bei dem gemeinsamen Galeristen Paul Guillaume gesehen hatte; Guillaume veranstaltet in seiner Galerie im Faubourg St. Honoré 1918 eine Ausstellung von Werken Matisses und Picassos, die eine Rückkehr zum Realismus zeigen. Apollinaire sucht dies im Katalog wie folgt zu beschreiben: "Er ändert seine Richtung, kehrt auf seinen Spuren zurück, neuerdings noch festeren Schrittes, wird stets größer, gewinnt Kraft aus dem Kontakt mit noch unentdeckter Natur oder durch den Vergleich mit ebenbürtigen Meistern der Vergangenheit." (zit. nach: Roland Penrose, Picasso. Leben und Werk, München 1961, S. 205). Eine Begegnung der beiden Künstler an der Mittelmeerküste ist für dieses Jahr allerdings nicht überliefert. Gibt uns Matisse von den jeweiligen Hotelzimmern eine zumeist einheitliche, gleichsam bewohnte Sicht, so wirkt Picassos Fensterausblick bei aller Lieblichkeit doch eher kühl, ja klassizistisch motiviert zu Beginn der 1920er Jahre, als er sich von den Extremen des Kubismus löst und seine erste Italienreise 1917 im Tross Sergei Diaghilevs zum Anstoß nimmt, Künstler wie Raffael, aber auch den Vertreter des französischen Klassizismus zu studieren, nämlich Jean-Auguste-Dominique Ingres.
Im Gegensatz zu den sich ganz in der Fläche ausbreitenden Bildern von Matisse besteht das Interieur Picassos aus zwei Ebenen, dem naturalistischen Ausblick aus der von einem üppigen Gardinenschal gerahmten Balkontür auf das blaue Meer und dem azurnen, leicht bewölkten Himmel sowie dem an den späten Kubismus erinnernden Stillleben mit Gitarre, Schale und Notenheft auf dem Tisch, wie ein aus der Zeit gefallenes Bühnenrequisit vor das Balkongitter platziert. Mit dem Blick in die Ferne, in einen tendenziell endlosen Himmel, greift Picasso in doch auffallend detaillierter, naturalistischer Malweise ein in erster Linie romantisches Sehnsuchtsmotiv auf.

Erinnerung an Saint-Raphaël

Eingedenk dieser Reise, inspiriert von geistreichen Form-und Sinnverschränkungen, zeigt auch diese Gouache Picassos Spiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Die Bildrequisiten, der Tisch, die Gitarre und die Obstschale, entwickelt Picasso nach einer weiteren, auf das eigentliche Stillleben konzentrierten, späteren Version des südlichen Balkonmotivs in verschiedenen Varianten weiter in eine aus den negativen Umrissen der Objekte 'ausgeschnittene' und collagierte Komposition auf einem mehrflächigen Bildgrund in Schwarz und Weiß. Der Titel allein verleiht uns die Gewissheit, Details doch zu erkennen, die sich gleichwohl selbst erst recht als Fiktion herausstellen. Die hier übereinandergelegten, verschiedenen Bildrealitäten erinnern an kubistische Gemälde mit "papiers collés" der Jahre 1913/14, also an jenen synthetischen Kubismus, in dem Picasso mit Mustern und Texturen experimentiert und in farbenfrohen Gemälden auch Objekte wie Zeitungspapier und andere papierbasierte Dinge hinzufügt. Die Charakterisierungen der verschiedenen Bildgegenstände sind nebeneinander und übereinander ausgelegt und sich durchdringend komponiert. In prägnanter Knappheit entdecken wir die Silhouette des Tisches (Guéridon) rechts, die Andeutung einer Kompottschale (Compotier) im Zentrum, und den Schein einer Gitarre (Guitare), auf das Zitieren der Saiten reduziert, darunter. Und vielleicht ist man versucht, im blauen Scherenschnitt eine Figurine zu entdecken, die das traditionelle Instrument des Kubismus präsentiert. Die Verschränkungen und Durchdringungen von Formen, Farben, Licht und Schatten sind sowohl im Bildmotiv als auch im Inneren, weiß und schwarz, und im äußeren hell-blauen, fiktiv rahmenden Bildträger äußerst raffiniert angelegt als mehrschichtige Bilder im Bild. Der eigentliche Bildträger wiederum, nämlich der in Ocker gehaltene Papiergrund, erfährt so eine Eigenständigkeit mit trompe-l'œilartigem Charakter. Alles, was mit dem 'ersten' Stillleben in Saint-Raphael noch in feiner Gliederung und Detailverliebtheit wahrzunehmen ist, reduziert Picasso in dieser, im Anschluss an sein Erlebnis in Saint-Raphaël entstehenden Gouache auf ein Minimum an kompositorischer Treue an die Erinnerung. Was wie eine wirkungsvolle Variation des ausgehenden Stillleben-Inventars und Bild-im-Bild-Gedankens aussieht, entpuppt sich als immer wieder neue Bilderfindungen mit neuen Elementen. Die dominierende Idee dieser Gouache ist das ausgewählt reduzierte Formenspiel, die harmonische Farbigkeit in pastellenen Tönen der notwendig schweigenden Stillleben-Objekte vor dem Schwarz und Weiß.

Provenienz
Hilde (Hildegard) Prytek, geb. Jastrow, 1908 in Polen geboren, lebt 1940 im New Yorker Stadtteil Queens und ist mit Frederick E. Prytek (1913–1962) verheiratet. Sie ist nachweislich die erste Besitzerin. In welchem Jahr diese Gouache "Guéridon, guitare et compotier" in ihre Sammlung gelangt, ist nicht genau belegbar. Vermutlich während ihrer Zeit als Assistentin in der seit 1936 im Aufbau befindlichen Galerie des aus Berlin stammenden Karl Nierendorf in New York. Im Januar 1937 mietet Karl Nierendorf gegenüber dem Museum of Modern Art erste Räume an und eröffnet dort die Nierendorf Gallery in New York City. Es folgen weitere Wechsel und Adressen in der 10-jährigen Geschichte der bedeutenden und einflussreichen Galerie für die Verbreitung europäischer Kunst in den USA. 1946 fliegt Karl Nierendorf im Mai als einer der ersten Deutsch-Amerikaner nach Europa und bleibt dort bis September 1947 in Deutschland, der Schweiz, Italien, Frankreich und England. Seine Galerie in New York wird während seiner Abwesenheit von Hildegard Prytek geleitet, mit der er brieflich und telefonisch im Kontakt steht. Ende September 1947 kehrt Nierendorf nach New York zurück. Am 25. Oktober stirbt er an einem Herzinfarkt.
Der ungeordnete Nachlass von Karl Nierendorf wird vom Staat New York 1948 beschlagnahmt. Da er kein Testament hinterlässt und aufgrund des noch herrschenden Kriegsrechtes zwischen Amerika und Deutschland, haben die Erben in Deutschland keinen Zugriff auf das Erbe. Mitte Januar erwirbt die Guggenheim-Foundation den größten Teil des Nachlasses für 72.500 US-Dollar: Neben "prints, books, booklets, furniture, fixtures, equipment and other miscellaneous items" gehören dazu zahlreiche Plastiken und 554 Bilder von 88 Künstlern, darunter, laut einer Inventarliste der Guggenheim-Stiftung vom 27. Januar 1948, 113 Klees und auch 14 Werke von Picasso. Und Hilde Prytek? Der Prozess und die Abwicklung dauern bis ca. 1953. Sie begleitet nicht nur das Verfahren, schon seit Längerem betreut sie den 1939 ausgewanderten Nierendorf-Künstler Josef Scharl, ist gut vernetzt unter anderem auch mit dem MoMA-Gründer Alfred H. Barr und führt Korrespondenz mit dem Galeristen Ferdinand Möller in Berlin. Auch ist sie für Hilla von Rebay die Ansprechpartnerin und kann ihr Werke von Wassily Kandinsky für das Solomon R. Guggenheim Museum vermitteln. 1950 verkauft sie mit ihrem Mann Frederick E. Prytek, die "Kriegsmappe" von Otto Dix an das Fogg Art Museum in Harvard. 1952 ist das Ehepaar Prytek Leihgeber für die von John Rewald inszenierte "Fauves"-Ausstellung im MoMA. mit einem Straßenbild in "Arcueil" von Henri Matisse aus dem Jahr 1899. 1961 stirbt Hildegard Prytek in New York, ein Jahr später ihr Mann Frederick. Ihre Erben verschenken die Gouache von Picasso 1990 an einen Freund; seitdem ist sie in Privatbesitz. [MvL]



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Pablo Picasso
Guéridon, guitare et compotier, Wohl 1920.
Gouache und Tusche
Schätzung:
€ 250.000
Ergebnis:
€ 355.600

(inklusive Aufgeld)