Auktion: 545 / Evening Sale am 08.12.2023 in München Lot 36


36
Lovis Corinth
Paraphrase (Bildnis der Charlotte Berend), 1907.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 250.000
Ergebnis:
€ 317.500

(inklusive Aufgeld)
Paraphrase (Bildnis der Charlotte Berend). 1907.
Öl auf Leinwand.
Links oben signiert. 88 x 63 cm (34,6 x 24,8 in).
[SM].

• Die Porträts seiner Frau Charlotte zählen zu den persönlichsten und intimsten Werken Lovis Corinths.
• Corinths Begeisterung für diesen Moment ist in der Malerei spürbar, eine schwärmerische Stimmung verbreitet sich.
• Die flüchtig-virtuose Pinselsetzung und der Einsatz von zarten, obgleich strahlend leuchtenden Farben betont den sommerlichen Charakter der lockeren impressionistischen Malweise.
• Mit "Paraphrase" kommt eines der letzten repräsentativen Beispiele dieses eindrucksvollen Werkkomplexes auf den internationalen Auktionsmarkt.
• Fast 100-jährige bedeutende Ausstellungshistorie, unter anderem in der Nationalgalerie Berlin 1926, dem Museum Folkwang Essen, 1958, und der Retrospektive in der Tate Gallery 1997
.

PROVENIENZ: Dr. Oscar Pinner, Frankfurt a. Main.
Anna Pinner (1928 durch Erbschaft vom Vorgenannten erhalten, bis zur Umzugsgut-Einlagerung).
Auktionshaus Otto Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main. (Versteigerung der Umzugsgut-Einlagerung).
Kunsthaus Wilhelm Ettle, Frankfurt a. Main (um 1938 beim Vorgenannten erworben).
Berger Mühle bei Muschenheim (Sicherheitseinlagerung durch den Vorgenannten, bis 25.9.1945).
Property Control Section, Military Government Frankfurt a. Main, Kunsthaus Ettle, Berger Mühle bei Muschenheim (vom Vorgenannten erhalten, in Verwahrung, 25.9.1945-28.5.1947).
Central Collecting Point: Wiesbaden (vom Vorgenannten übernommen, in Verwahrung, 28.5.1947-07.5.1952, Wie-Nr. 4838).
Dienststelle für die Treuhandschaft von Kulturgut, Auswärtiges Amt (am 07.5.1952 vom Vorgenannten übernommen, in Verwahrung).
Wilhelm Ettle (wohl 1953 vom Vorgenannten zurückerhalten).
Privatsammlung, Deutschland
Kunsthaus Bühler, Stuttgart (verso mit Etiketten 1983-1997).
Privatsammlung, Deutschland.
Gütliche Einigung mit den Erben nach Dr. Oscar und Anna Pinner (2013).
Privatsammlung Deutschland.

Das Werk ist frei von Restitutionsansprüchen.

AUSSTELLUNG: Gedächtnis-Ausstellung Lovis Corinth, Nationalgalerie Berlin, 1926, Nr. 136.
Lovis Corinth. Gedächtnis-Ausstellung, Sächsischer Kunstverein, Dresden, 1927, Nr. 48.
Lovis Corinth, Kunsthaus Bühler, Stuttgart, 1983.
Deutscher Kunsthandel im Schloss Charlottenburg, Orangerie '83, Berlin, 1983, Kat.-Nr. 21.
Lovis Corinth 1858-1925, Museum Folkwang, Essen, 10.11.1985-12.1.1986; Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, 24.1.-30.3.1986, Kat.-Nr. 40.
Künstler in Deutschland 1900-1945. Individualismus und Tradition, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 18.9.-9.11.1986.
Lovis Corinth - Retrospektive, Haus der Kunst, München, 4.5.-21.7.1996; Nationalgalerie Berlin, 2.8.-20.10.1996; Saint Louis Art Museum, 14.11.1996-26.1.1997; Tate Gallery, London, 20.2.-4.5.1997, Kat.-Nr. 67.
Lovis Corinth. Das Leben ein Fest! Belvedere Wien, 18.6.-3.10.2021; Saarlandmuseum, Moderne Galerie, Saarbrücken, 5.11.2021-20.2.2022, S. 140f., Kat.-Nr. 342.

LITERATUR: Charlotte Berend-Corinth, Lovis Corinth. Die Gemälde. Werkverzeichnis, München 1992, WVZ-Nr. 342.

Rudolf Klein, Lovis Corinth, in: International Art, a review of the art of all countries, Band 3, Leipzig, wohl 1908/09 (m. Abb., unter dem Titel "Madame v. W.").
Robert Bertrand, Lovis Corinth, Paris 1940, Nr. 25.
Carl Georg Heise, Lovis Corinth. Bildnisse der Frau des Künstlers. Erinnerungen an die Entstehung der Bilder von Charlotte Berend-Corinth, Stuttgart 1958, S. 23f., Nr. 7
Archivalien:
Schriftwechsel zur Corinth-Ausstellung 1926, L-Z, SMB-ZA, I/NG 675, Bll. 166f.
CCP, Wiesbaden, Karteikarten Nr. Wie4838 (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0113, S. 1-4).
Ettle Case: Belongings (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0073, S. 61).
Ettle Case: Belongings held at Wiesbaden (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0073, S. 23, 51, 53).
Ettle Case: Military Government (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0075, S. 14).
Ettle Case: Military Court [1 of 2] (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0075, S. 116).
Ettle Case: Correspondence (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0074, S. 39, 105, 129).
Ettle Case: Inventory (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0074, S. 21).
Out-Shipmaent 390, May 7, 1952 (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0036, S. 6).
Ettle Case: Prison Correspondence (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0076, S. 25).
Jewish Claims (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0009, S. 89).
Jewish Claims: Jewish Restitution Successor Organizsation (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0009, S. 116).
Correspondance: General 1948-1949 (NARA, Washington, M1947, Record Group 260, Roll 0026, S. 6).
Bavaria: Sanspareil – Miscellaneous: Metternich Report (NARA, Washington, M1940, Record Group 260, Roll 0006, S. 549).

1901 stellt sich die 21-jährige Kunststudentin Charlotte Berend bei Lovis Corinth vor, um in dessen kurz zuvor gegründete "Malschule für Weiber" einzutreten. Zu diesem Zeitpunkt hat der um 22 Jahre ältere Künstler bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Er hat Ostpreußen verlassen und ist über die Kunstzentren Paris und München in Berlin angelangt, wo Corinth im Umkreis der Secession um Paul Cassirer große Erfolge feiern wird und bald neben Max Liebermann sowie Max Slevogt als dritter Hauptvertreter des deutschen Impressionismus gilt. Mit Beginn ihres Kennenlernens steht Charlotte nicht nur als Modell zur Verfügung, sondern steht auch inmitten seines Lebens: 1904 heiraten sie. Noch Jahrzehnte nach seinem Tod wird Charlotte Berend-Corinth sich mit unermüdlichem Engagement für sein Werk einsetzen, als verständnisvolle und liebende Partnerin. Neben zahlreichen Aufzeichnungen zeugen vor allem etwa 80 Porträts, die Corinth von Charlotte anfertigt, von ihrer ungemein erfüllten Beziehung. Sie zeigen die inniglich Verehrte, die Ehefrau und Mutter ihrer beiden Kinder in teils sehr unterschiedlichen Momenten, Situationen und Rollen. Ein hoher Grad an emphatischer Einfühlung, eine ungemein intime Aussagekraft seitens des Malers für sein bevorzugtes Modell ist allen Werken zu eigen. Damit haben die Gemälde auch einen biografischen Charakter und sind berührende Zeugnisse einer erfüllten Beziehung zwischen zwei Künstlern am Beginn des 20. Jahrhunderts.
Corinth malt Charlotte
Lovis und Charlotte Corinth verbringen 1907 die Sommerferien an der Ostsee am Timmendorfer Strand, um sich von dem hektischen Berliner Kunstbetrieb zu erholen. Über die Entstehungsumstände des Gemäldes "Paraphrase" schreibt Charlotte ein halbes Jahrhundert später: "An einem solch heißen Tage fuhren wir zum Strand hinunter, der ziemlich weit weg von unserer gemieteten kleinen Wohnung entfernt lag. Um mich etwas vor der Sonnenbestrahlung zu schützen, hatte ich während der Fahrt meinen weißen Spitzenschal über die Haare gelegt. Am nächsten Tage sagte Corinth: 'Ich würde dich gern so malen, wie ich Dich gestern im Wagen sah – im hellgelben Kleid mit den vielen Spitzen und dem Spitzenschal über Deinem Kopf. Aber ich müßte dasselbe helle Mittagslicht haben – beinah schattenlos. Ich dachte, ob man in der Laube von unserem kleinen Garten das ausprobieren sollte.' Wir gingen zur Laube, und Lovis war begeistert. 'Ja! Tatsächlich, ich werde um 12 Uhr das volle Licht haben.' Er begann das Bild und meinte: 'Ich sage Dir, es sieht großartig aus. Wie in einem Schaum von Spitzen sitzt Du. Vielleicht glückt es mir, auf einen Hieb fertig zu werden, denn es mag sein, daß morgen schon wieder Regenwetter ist.' Er malte das Bild bei der ersten Sitzung beinah fertig, dann rief er: 'Das Licht ändert sich, ich höre auf. Ich brauche morgen nur noch höchstens eine Stunde. Aber die Partie von den Händen zwischen den Spitzen ist so schön, die will ich morgen mit frischen Kräften malen.' Lovis hatte am folgenden Tag nochmals 'sein richtiges Licht' und beendete das Bild. 'Es sieht einfach prachtvoll aus, wie Du so dasitzest, mein Petermännchen', rief er immer wieder." (Carl Georg Heise, Lovis Corinth. Bildnisse der Frau des Künstlers. Erinnerungen an die Entstehung der Bilder von Charlotte Berend-Corinth, Stuttgart 1958, Nr. 7, S. 23.)

Corinths Begeisterung für diesen Moment ist in der Malerei spürbar, eine schwärmerische Stimmung, die sich mit der flüchtig-virtuosen Pinselsetzung und dem Einsatz von zarten, obgleich strahlend leuchtenden Farben zeigt: Weiß-Grau, Gelb, Lachsrosa und Bläulich-Violett fügt sich zu dem delikaten Spitzenkleid, welches dem Maler den Anlass für das höchst virtuose Bild gibt. Mit einer dunklen Brosche zentriert Corinth das Gesamtgefüge und setzt gleichsam einen akzentuierenden Augenblick, den Reiz des unmittelbar Flüchtigen. Das leuchtende Grün der Laubenbepflanzung betont den sommerlichen Charakter der lockeren impressionistischen Malweise. Charlotte ist nahezu in Lebensgröße als Halbfigur in einem nur angedeuteten Korbstuhl sitzend wiedergegeben. Ihre Präsenz, ihr aufmerksamer Blick gilt ihrem Mann und sogleich uns, die wir das Porträt betrachten. Das Modell wirkt entspannt, gewohnt seit mehreren Jahren ihrem Mann Modell zu sitzen, sich nicht zu bewegen. Zwischen Maler und Modell entsteht ein unvergleichlich intensives Erleben. Dieses Erleben beschreibt Charlotte Berend-Corinth Jahre später in ihren Erinnerungen: "Ich erlebte im Geiste jene begnadeten Stunden, da er mich malte und seinen durchdringenden Blick auf mich richtete, ehe er die ersten Pinselzüge über die Leinwand führte. Seine Augen öffneten sich dann ganz weit. Die Farbe der Augen wechselte vom tiefen Blau zu kristallenem Leuchten. […] Ich kann es nie ganz zum Ausdruck bringen, wie glücklich ich war, wenn Lovis mich malte. Da ich miterlebte, wie er das Bild aufbaute, entwickelte und vollendete, verstand ich seine künstlerische Idee, die ihn veranlaßt hatte, nochmals von mir ein Bild zu malen. Denn ich fühlte mich in jedem Porträt, sowohl mein Naturell als auch die jeweilige Stimmung, in der ich mich befand. Mein ganzes Wesen schließen die Porträts ein, mein ganzes Sein." (Charlotte Berend-Corinth, Mein Leben mit Lovis Corinth, München 1958, S. 16)
"Paraphrase"
Wieder in Berlin steht das Gemälde noch längere Zeit in Corinths Atelier auf der Staffelei. Charlotte berichtet in ihren Erinnerungen, wie der einflussreichste deutsche Theaterkritiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Alfred Kerr, beiläufig eine amüsant spöttische Charakterisierung für ihr jüngstes Porträt findet: "Dort sah es Alfred Kerr, während Lovis ihn malte. Dr. Kerr fand sich 'nicht gerade geschmeichelt' auf seinem Porträt. Als er das meine auf der Staffelei sah, meinte er sarkastisch: 'Und da wir beim Thema >Schmeichelei< sind, möchte ich das Porträt von Ihnen, Charlotte, eher als >Paraphrase< bezeichnen.' Lovis, der jeder Ironie zugeneigt war, niemals gekränkt vom Urteil eines geistvollen Menschen, lachte. Von nun an nannten wir das Bild 'Die Paraphrase'. 'Und dabei', sagte Corinth, 'ist es sogar sehr ähnlich, aber Kerr kann das nicht so sehen.'" (Heise, Lovis Corinth, a. a. O, S. 24) Lovis Corinth fertigt das Porträt des damals sehr populären Theaterkritikers Alfred Kerr aus eigenen Stücken und ohne Auftrag. Das Gemälde bleibt bis zu seinem Tod 1925 in seinem Besitz. Erst danach gelangt es in den Kunsthandel, wo es der Architekt Leo Nachtlicht erwirbt. Heute befindet sich das Bild in der Stiftung Stadtmuseum Berlin.

Charlotte Berend-Corinth
Auch als Ehefrau, Mutter, Modell und Lebensgefährtin von Lovis bleibt Charlotte selbstbewusste und eigenständige Künstlerin. Sie wird am 25. Mai 1880 als Tochter des jüdischen Baumwollimporteurs Ernst Berend und seiner Frau Hedwig (geb. Gumpertz) geboren. Gemeinsam mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester wächst sie in der Berliner Kochstraße, später in der Charlottenburger Kantstraße in wohlhabenden Verhältnissen auf. Unterstützt vom Vater beginnt Charlotte um die Jahrhundertwende das Studium der Malerei in der Kunstschule Klosterstraße bei Prof. Max Schäfer, später wechselt sie an die Berliner Kunstgewerbeschule. "Lovis Corinth Malschule für Akt und Portrait. Vom 15. Oktober an: Berlin NW., Klopstock Straße 52, II. Auskunft wird erteilt im Bureau der Secession" annonciert Lovis Corinth 1901 im aktuellen Katalog der Berliner Secession seine "Malschule für Weiber". Charlotte Berend wird eine seiner ersten Schülerinnen und bald darauf bevorzugtes Modell. Im Juli 1902 entsteht als erstes von zahlreichen Bildnissen das "Porträt Charlotte Berend im weißen Kleid". Am 26. März 1904 heiraten der Lehrer und sein Modell, im Oktober 1904 wird der Sohn Thomas Ernst Franz geboren (gest. 1988), die Tochter Wilhelmine folgt 1909 (gest. 2001). Sie mietet ein eigenes Atelier in Moabit, stellt ab 1906 ihre Bilder in der Berliner Secession aus, wird 1912 dort Mitglied und 1924 in den Vorstand der Künstlervereinigung gewählt. Sie ist eng mit der lebendigen Berliner Theaterszene verbunden, produziert Mappenwerke und Buchillustrationen.

Nach dem Tod von Lovis Corinth reist Charlotte Berend viel: Spanien, Frankreich, Schweiz, eine Orientreise. Den größten Teil der dreißiger Jahre verbringt sie in Italien und findet dort zu ihrem eigenen Stil der Landschafts-Aquarellmalerei, mit dem sie mehrfach zu Ausstellungen eingeladen wird. 1939 folgt sie ihrem Sohn Thomas, der bereits seit 1931 in New York ansässig ist, in die Vereinigten Staaten. Sie bleibt allerdings nur wenige Monate bei ihm in New York, zieht dann nach Santa Barbara in Kalifornien. Dort lebt sie von 1940 bis 1945, baut sich ihren eigenen Freundeskreis auf und malt zahlreiche kalifornische Landschaften. 1945 zieht sie zurück nach New York in die Nähe ihres Sohnes und der frisch eingewanderten Tochter Wilhelmine, die die Kriegsjahre in Hamburg verbracht hatte. Charlotte Berend stirbt im Alter von 86 Jahren am 10. Januar 1967 in New York.

Provenienz
Das leidenschaftliche Moment, das 'Paraphrasierte' mit durchsichtigen, lichten Farbtönen und dessen spezifische Qualität erkennt auch der mit Corinth befreundete Frankfurter Sammler Dr. Oscar Pinner, der das Bild wenig später erwirbt. Pinners Tochter Erna studiert ab 1908 bei Corinth. Diese Porträts seiner Frau Charlotte zählen zu den persönlichsten und intimsten Werken des Malers, in denen sich die Wechselwirkung von Künstlerischem und Menschlichem, Sinnlichem und Seelischem vielleicht am unmittelbarsten mitteilt. Viele von ihnen haben Eingang in einige der wichtigsten Museumssammlungen Europas und der USA gefunden. Mit der "Paraphrase" kommt eines der letzten repräsentativen Beispiele dieses eindrucksvollen Werkkomplexes auf den internationalen Auktionsmarkt. [MvL]



36
Lovis Corinth
Paraphrase (Bildnis der Charlotte Berend), 1907.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 250.000
Ergebnis:
€ 317.500

(inklusive Aufgeld)