Lexikon
Vorexpressionismus

Der Expressionismus ist ohne die Rezeption einer Reihe wichtiger Vorläufer nicht in der gleichen Form denkbar. Vor allem die - durchaus klischeeverhaftete - Wendung von der Eindrucks- zur Ausdruckskunst, mit der sich die Expressionisten von der vorangegangenen Generation der Impressionisten abzusetzen versuchten, legitimierten sie unter Berufung auf einige Künstler der Zeit um 1900. Diese legten entweder als Einzelgänger oder als Vertreter anderer Kunstbewegungen wichtige Grundsteine für den Expressionismus.
Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Kunst des Norwegers Edvard Munch. Nicht nur seine antinaturalistische Gestaltung und Verwendung kräftiger, kontrastreicher Farbkombinationen, sondern vor allem die Thematisierung psychischer Spannungen und existentieller Ängste wurden zum Hauptanliegen der expressionistischen Generation. Exemplarisch dafür steht das Gemälde "Der Schrei" (1895). Hier dehnt sich die vom Schreienden ausgehende Verzweiflung durch die formale Gestaltungsweise auf die gesamte Komposition aus: Die in die Tiefe führenden Geraden und die bedrückenden Kurven des Himmels und der Landschaft sind für die beengende Stimmung des Bildes verantwortlich.
Eine vergleichbare Entfremdung von der Welt bestimmt auch den Grundton der Kunst James Ensors. Dieser belgische Einzelgänger ist ebenfalls ein wichtiger Vorläufer des Expressionismus. Protagonisten seiner Bilder sind stets Karnevalmasken, Skelette sowie groteske und gespenstige Figuren, die mit Sinn für Ironie und schwarzem Humor zu unheimlichen Kompositionen zusammengefügt werden. Sein Werk ist sozialkritisch, mit religiösen Konnotationen versehen und veranschaulicht eine desillusionierte Haltung gegenüber der Welt, die ebenfalls bei vielen Expressionisten anzutreffen ist. So greifen etwa Emil Noldes religiöse Bilder und Alfred Kubins monströse Visionen auf Ensors Kunst zurück.
Ein anderes wichtiges Vorbild der Expressionisten ist ohne Zweifel Vincent van Gogh, vor allem im Hinblick auf seinen Sinn für die Linienbewegung, die Dissonanz, die Ausdruckskraft der Farbe und die psychologische Aufladung der Komposition. Auch Paul Cézannes Suche nach dem Wesentlichen und Paul Gauguins Faszination für exotische, als "primitiv" empfundene Kulturen sowie seine Negation der Raumperspektive und die Hervorhebung der Linie bildeten Anknüpfungspunkte für die Expressionisten.