Auktion: 535 / Evening Sale mit Sammlung Hermann Gerlinger am 09.12.2022 in München Lot 61

 

61
Andy Warhol
Florence Barron, 1965.
Tinte- bzw. Siebdruckfarbe auf Zeitungspapier
Schätzung:
€ 100.000
Ergebnis:
€ 125.000

(inklusive Aufgeld)
Florence Barron. 1965.
Tinte- bzw. Siebdruckfarbe auf Zeitungspapier.
58 x 38,4 cm (22,8 x 15,1 in), Blattgröße.

• Die Kunstsammlerin Florence Barron gibt Warhol 1963 die Anregung zu seinem ersten Selbstporträt.
• Probedruck für zwei jeweils 6-teilige Porträtserien auf Leinwand.
• Gehört zu den ersten Auftragsarbeiten des Künstlers.
• Ehemals Teil der Sammlung Henry Geldzahler (1935–1994), des einflussreichen, wegweisenden und revolutionären Kurators für zeitgenössische Kunst am New Yorker Metropolitan Museum.
• Erstmals auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten (Quelle: artprice.com)
.

PROVENIENZ: Sammlung Henry Geldzahler, New York.
Sammlung Plouvier, Paris.
Sammlung Yvon Lambert, Paris (ab 1975).
Privatsammlung Schweiz.
Privatsammlung Hessen (2003 vom Vorgenannten erworben).

LITERATUR: Georg Frei u. Neil Printz, The Andy Warhol catalogue raisonné, Bd. 02 B, Paintings and sculpture 1964-1969, S. 169 (m. Abb., Nr. 77).

Andy Warhol. Der Meister der Pop-Art
Mit seinen radikal innovativen, seriellen Arbeiten stellt Warhol zu Beginn der 1960er Jahre die amerikanische und schließlich auch die internationale Kunstwelt auf den Kopf. Zuvor ist der Künstler als Illustrator und Grafikdesigner tätig, bis er sich 1961 schließlich der Malerei und der bildenden Kunst zuwendet. Bis heute sind die Nachwirkungen seines Schaffens, seiner revolutionären Kunstauffassung spürbar und schon zu Lebzeiten gilt Warhol als einer der weltweit berühmtesten Künstler. Keine zwei Jahre nach seinem Tod widmet ihm das Museum of Modern Art in New York eine umfassende Retrospektive. Heute sind seine Arbeiten Teil der weltweit renommiertesten Museen, Institutionen und Privatsammlungen.
Die spezielle Technik seiner Siebdruck-Gemälde, mit denen er im Laufe des späten 20. Jahrhunderts die Malerei revolutioniert, setzt er erstmals 1962 bei den "Dollar Bills" ein. Im gleichen Jahr arbeitet Warhol dann bei den "Baseball"-Siebdruck-Gemälden erstmals auf Basis einer fotografischen Vorlage (Nelson-Atkins-Museum, Kansas). Kurz darauf entstehen schließlich die ersten Siebdruck-Porträts auf Leinwand, zunächst von Berühmtheiten wie Natalie Wood, Warren Beatty u. a. in der Werkserie "Teen Stars" (1962). Bis zur Entstehung der hier angebotenen Arbeit entstehen weitere Porträts von Warhols berühmtesten Zeitgenossen und besonderen Ikonen, darunter Marilyn Monroe, Elvis, die Mona Lisa, Elizabeth Taylor, Jackie Kennedy und Marlon Brando sowie einige Selbstporträts.

Die Porträtierte: Die Sammlerin Florence Barron (1902–1999)
Mit ihrer leidenschaftlichen Begeisterung und ihrem großen Interesse für die zeitgenössische amerikanische Kunst trägt Florence Barron, auch gemeinsam mit ihrem Ehemann S. Brooks Barron, im Laufe ihres Lebens eine bedeutende Kunstsammlung zusammen. Das Ehepaar lebt ab den 1920er Jahren in Detroit. Die Pläne für das 1955 erbaute, sehr moderne Wohnhaus stammen von Minoru Yamasaki (1912–1986), der ab 1962 insbesondere durch seine Entwürfe für das World Trade Center große Bekanntheit erlangt. Florence Barron kauft mit sicherem Gespür für die bedeutende Kunst ihrer Zeit Arbeiten von Marc Chagall, Joan Miró, Richard Artschwager, John Chamberlain, Franz Kline, Willem de Kooning, Claes Oldenburg, Jackson Pollock, Frank Stella, Cy Twombly, Tom Wesselmann, Zao Wou Ki sowie Andy Warhol und pflegt enge Kontakte zur New Yorker Galerie- und Kunstszene, u. a. zum legendären Kurator des Metropolitan Museum, Henry Geldzahler (in dessen Sammlung sich unser Werk eine Zeit lang befindet), zu Leo Castelli und Lawrence Rubin. Geldzahler verfasst 1967 den Einführungstext zum Ausstellungskatalog "Personal Preference. Paintings and Sculptures from the Collection of Mr. and Mrs. S. Brooks Barron" in der University Art Gallery in Oakland, Michigan, in dem er schreibt: "Florence and Brooks Barron have put together a collection that reflects with accuracy the excellence and complexity of post war American art". Mit dem befreundeten Kunsthändler und Autor Ivan Karp, der für die Leo Castelli Gallery tätig ist, besucht Florence Barron 1963 erstmals Warhols Atelier "The (Silver) Factory", um bei ihm ein Porträt in Auftrag zu geben, doch es kommt zunächst ganz anders. Gemeinsam mit Karp ermutigt Barron den Künstler, stattdessen ein Selbstporträt für sie anzufertigen. Kurz darauf entsteht Warhols erstes bedeutendes Selbstporträt auf Leinwand, das sie in mehreren Raten abbezahlt und das von ihren Nachfahren 2011 für umgerechnet 38 Millionen USD bei Christie's in New York versteigert wird.


Zarte Schattierungen und fein modulierte Halbtöne: ein einzigartiges Erscheinungsbild
1965 gibt Florence Barron schließlich auch eine Darstellung ihres eigenen Antlitzes bei Warhol in Auftrag. Die vielzähligen, glamourösen und knallig-bunten Auftragsporträts der 1970er und 1980er liegen damals noch in weiter Ferne. Warhol hat bis dahin nur sehr wenige Auftragsarbeiten angefertigt, darunter "Ethel Scull 36 Times" (1963, heute Metropolitan Museum of Art & Whitney Museum, New York) für das Sammler-Ehepaar Ethel und Robert Scull und die Porträts der Schriftstellerin und Philantropin Judith Green (Sammlung Barbara Lane, New York).
Vermutlich entstehen auch für dieses Porträt zunächst einzelne in einem Fotoautomaten geknipste Fotografien der engagierten Kunstsammlerin, von denen jedoch keine bekannt oder überliefert sind. Der Künstler wählt daraufhin auf Basis der Pose und der Bildwirkung eine einzelne Abbildung aus, die er mithilfe eines Projektors vergrößert, auf Acetatseide überträgt und anschließend zu einer Siebdruckvorlage verarbeiten lässt. "[Dann] quetschten Warhol und ein Assistent die Farbe durch das Sieb auf die zuvor bemalte Leinwand. Häufig wurde auch ein Probedruck auf Papier gemacht, um festzustellen, ob sich das Motiv sauber in Schwarz darstellte. Diese Papierdrucke – Überbleibsel der ersten Stufen des Druckprozesses, sind heute sehr kostbar.“ (Toni Shafrazi, in: Andy Warhol. Porträts, Hamburg 2012, S. 14). Da Warhol keine Presse verwendet, sondern die schwarze Farbe von ihm und seinem Assistenten manuell über das Sieb auf das unterliegende Papier oder später die unterliegende Leinwand gestrichen wird (Abb.), fallen Druckintensität und Netzstruktur bei jedem Siebdruck unterschiedlich aus, was sich insbesondere an der hier angebotenen Arbeit nachvollziehen lässt. Während der Künstler in anderen Arbeiten dieser Zeit, bspw. den Porträts von Elisabeth Taylor, Marilyn Monroe (ab 1963), Natalie Wood und in den Darstellungen der Mona Lisa, mit starken Kontrasten arbeitet und den schwarzen Siebdruck auch flächig gegen den Untergrund abhebt, besticht der Siebdruck zu dem Porträt von Florence Barron mit zarten Schattierungen und durch das Sieb fein modulierten Halbtönen. Im Werkverzeichnis heißt es zu der Siebdruckvorlage, die sowohl für das hier angebotene Werk als auch für die darauf basierenden Leinwand-Arbeiten verwendet wird: "The character of the screen itself and the way Warhol has superimposed impressions accounts for the unique appearance of this work. Rather than the high-contrast image that he characteristically requested from his silkscreen maker, Warhol seems to have worked from an exceptionally low-contrast half-tone that allows the printed impression to become increasingly opaque.“ (Georg Frei u. Neil Printz (Hrsg.), London 2004, S. 169). Warhol scheint in mehreren Druckvorgängen ganz genau untersucht zu haben, wie viel Farbe nötig ist, um eine bestimmte Farbintensität zu erreichen und die Gesichtszüge der Dargestellten trotzdem möglichst detailreich zum Vorschein zu bringen. In der auf unserer Arbeit aufbauenden Porträtserie zu Florence Barron spielt Warhol dann mit ebendiesen Abstufungen. Das hier so fein modulierte Gesicht druckt Warhol später zum Teil gleich mehrfach auf ein und dieselbe Leinwand, um Überlagerungen und Unschärfe zu erzielen. Nebeneinander aufgereiht zeigen die Leinwände deshalb eine Abstufung von Druckintensität und Detailreichtum, während unsere hier angebotene Arbeit den allen Leinwand-Arbeiten zugrunde liegenden Ausgangpunkt des Werkes wiedergibt.
Das Zeitungspapier als Bildträger findet sich ein weiteres Mal bei einem früheren Probedruck zu "Troy" (1962), vermutlich stellt es für den Künstler ein sehr vertrautes Medium dar. Als eifriger Zeitungsleser ist das Material leicht verfügbar und zudem auch mit seiner ständigen Suche nach neuen fotografischen Bildvorlagen eng verbunden.

Richtungsweisend
Mit der ungewöhnlichen Darstellung im Profil erinnert "Florence Barron" zunächst an Warhols berühmte Werkserie der "13 Most Wanted Men" (1963) sowie an einzelne Porträts von Jackie Kennedy, doch das Profil erinnert gleichzeitg auch an klassische Renaissance-Porträts und an Darstellungen von Staatsoberhäuptern auf Münzen und Briefmarken. Der kunsthistorisch tradierte Porträttypus wird hier mit dem eleganten Pelzkragen und dem wie zum Sprechen geöffneten Mund kombiniert und weist die Dargestellte damit nicht als Hollywood-Star oder perfekte Schönheit, sondern als die kluge, wortgewandte Kunstexpertin aus, die sie eben war.
Zu einer Zeit, in der die Porträtmalerei in der zeitgenössischen Kunst eher als aussterbende Gattung angesehen wird, schafft Warhol mit künstlerisch-handwerklichem wie auch kommerziellem Geschick innovative, ganz neuartige und, wie sich herausstellen sollte, ikonenhafte Porträts seiner berühmten Zeitgenossen und von Persönlichkeiten aus seinem unmittelbaren Bekanntenkreis; sie entwickeln sich ab den frühen 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre (oftmals in quadratischem Format) zum Dreh- und Angelpunkt seines gesamten Œuvres.

Nach Entstehung befindet sich unser Werk zunächst in der Sammlung des sowohl mit Andy Warhol als auch mit der Sammlerin Florence Barron befreundeten Kunstexperten Henry Geldzahler, der insbesondere in den 1960er Jahren als revolutionärer, besonders einflussreicher und wegweisender Kurator für zeitgenössische Kunst am New Yorker Metropolitan Museum Furore macht. [CH]



61
Andy Warhol
Florence Barron, 1965.
Tinte- bzw. Siebdruckfarbe auf Zeitungspapier
Schätzung:
€ 100.000
Ergebnis:
€ 125.000

(inklusive Aufgeld)