Auktion: 535 / Evening Sale mit Sammlung Hermann Gerlinger am 09.12.2022 in München Lot 56

 

56
Erich Heckel
Figuren am Strand, 1912.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 400.000
Ergebnis:
€ 865.000

(inklusive Aufgeld)
Figuren am Strand. 1912.
Öl auf Leinwand.
Vogt 1912/7. Hüneke 1912/26. Verso auf dem Keilrahmen signiert, datiert und betitelt. 82 x 97 cm (32,2 x 38,1 in).

• In den kraftvollen Farben der "Brücke"-Zeit inszeniert Erich Heckel eines der Hauptthemen der Künstlergemeinschaft: die Einheit von Mensch und Natur.
• Heckel verbringt den Juni 1912 auf Hiddensee, von hier sind nur wenige Gemälde überliefert.
• Gemälde mit Badeszenen aus der Schaffenszeit vor dem Ersten Weltkrieg sind auf dem internationalen Auktionsmarkt von großer Seltenheit.
• Schon ein Jahr nach der Entstehung in der wichtigen Galerie Goltz in München ausgestellt.
• Mit einer Badeszene von Erich Heckel (Badende am Waldteich, 1910) wurde der bisher höchste Zuschlagspreis für eine Arbeit des Künstlers auf dem internationalen Kunstmarkt erzielt (Quelle: artprice.com)
.

PROVENIENZ: München, Graphisches Kabinett Günther Franke (1932).
Besitz des Künstlers (1958 / Kat. Essen 1958).
Stuttgarter Kunstkabinett (verso mit dem Etikett).
Kunsthandel New York.
Kunsthandlung Ilse Schweinsteiger, München (vom Vorgenannten erworben).
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (1988 von Vorgenannter erworben, mit dem Sammlerstempel Lugt 6032).

AUSSTELLUNG: Neue Kunst II, Galerie Goltz München 1913, Kat.-Nr. 39 (hier betitelt "Strandbild").
Erich Heckel. Werke der Brückezeit. 1907-1917, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 15.9.-27.10.1957, Kat.-Nr. 33.
Brücke 1905-1913. Eine Künstlergemeinschaft des Expressionismus, Museum Folkwang, Essen, 12.10.-14.12.1958, Kat.-Nr. 36.
Maler der Brücke, Staatsgalerie Stuttgart, 1959 (ohne Katalog).
Meisterwerke des deutschen Expressionismus. E. L. Kirchner, E. Heckel, Schmidt-Rottluff, M. Pechstein, Otto Mueller, Wanderausstellung Bremen/Hannover/Köln/DenHaag/Zürich, 1960/61, Nr. 101.
Moderne Kunst II, R. N. Ketterer, Campione, Kat.-Nr. 52 (m. Farbabb.).
Erich Heckel, Galerie Thomas, München, 1974.
Frauen in Kunst und Leben der "Brücke", Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig, 10.9.-5.11.2000, Kat.-Nr. 94 (m. Farbabb.).
Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 1995-2001).
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Die Brücke und die Moderne. 1904-1914, Bucerius Kunst Forum, Hamburg, 17.10.2004-31.1.2005, Kat.-Nr. 140.
Im Rhythmus der Natur: Landschaftsmalerei der "Brücke". Meisterwerke der Sammlung Hermann Gerlinger, Städtische Galerie, Ravensburg, 28.10.2006-28.1.2007, S. 94f.
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina Wien, 1.6.-26.8.2007, Kat.-Nr. 93 (m. Farbabb.).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).

LITERATUR: Lagerkatalog – Frühjahr 1988, Ilse Schweinsteiger, München 1988, Kat.-Nr. 48.
Heinz Spielmann (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Sammlung Hermann Gerlinger, Stuttgart 1995, S. 196, SHG-Nr. 240.
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 190, SHG-Nr. 427.

Das erste Halbjahr 1912 ist für Erich Heckel von vielen Ereignissen bestimmt. Im April zeigt die Galerie Fritz Gurlitt die erste Ausstellung der Künstlergruppe in Berlin, im Mai folgt der Aufenthalt in Köln, um mit Ernst Ludwig Kirchner die Kapelle auf der "Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und Künstler" mit Motiven aus dem Alten und Neuen Testament auszumalen, die am 25. Mai eröffnet wird. Diese Ausstellung gilt als erste Zusammenfassung moderner Kunst seit 1880 in Europa. Folgt man dem Werkverzeichnis der Gemälde (Andreas Hüneke, München 2016, S. 178ff.), so verbringen Heckel und seine Lebensgefährtin Sidi Riha anschließend den Juni zunächst auf Hiddensee, bevor sie der Einladung Kirchners, sie im Juli auf Fehmarn zu besuchen, nachkommen. Dort treffen Heckels auf die Geschwister Erna und Gerda Schilling sowie die beiden MUIM-Schüler Hans Gewecke und Werner Gothein.

Heckels sind zum ersten Mal auf der langgezogenen, schmalen Insel westlich vor Rügen und wohnen im "Hiddensoe's Restaurant und Logierhaus" in Grieben. Seine Motive findet der Künstler im Norden der Insel mit dem Hochland und den Steilküsten. Nach seinen Aufenthalten im flachen Oldenburgischen Dangast zusammen mit Karl Schmidt-Rottluff während der Sommermonate der Jahre 1907 bis 1910, 1911 mit Kirchner, Pechstein und Mueller an den Moritzburger Teichen, erweist sich diese fast ins Meer fallende Steilküste als ein eher raues Motiv für den Hintergrund der drei badenden Frauen. Die Vielgestalt dieser von groben, geröllartigen Steinen geprägten Küstenlandschaft mit vereinzelten Sandflecken, mit der jäh abfallenden, mit baum- oder strauchbewachsener Steilküste charakterisiert Heckel mit diesem Gemälde zu einer großartigen Kulisse. Ganz vorne auf der 'Bühne' bewegt sich ein Akt, wohl aus dem Wasser kommend, auf eine stehende Figur zu, während ein dritter Akt, tief gebeugt etwas im seichten Wasser zu entdecken scheint. Dahinter unter von wirbelnden Wolken eingenommenem Himmel die Ostsee mit einem vor Anker liegenden Segelboot. Heckels Palette ist bestimmt von kräftigen Farben, die diese Küstenlandschaft unter bestimmten Lichtstimmungen zur Verfügung stellt, ein durchmischtes, mit breitem Pinsel aufgetragenes leuchtendes wie abgedämpftes Blau im Kontrast zum wechselhaften Grün der vom Wind zerzausten Kiefern und dem ockerfarbigen Sand, dessen Farbnuancen auch die von der Sonne geröteten Körper der drei Frauen angenommen haben. Wer sind die Frauen, die Heckel beim Baden beobachtet? Nur dem rechts stehenden Akt verleiht der Künstler die Andeutung eines Gesichts und könnte damit auf Siddi, seine Lebensgefährtin, hinweisen. Die beiden anderen Frauen belässt der Künstler in der Anonymität; sind es Mitgereiste aus Berlin, Bekanntschaften, die sich auf der Insel ergeben?

Mit dem Umzug nach Berlin im Herbst 1911 verändert sich Heckels Malstil wie auch der seiner Malerkollegen im Wesentlichen durch die neuen Lebensumstände in einer der energetischsten Metropolen dieser Zeit. Auch die Auseinandersetzung mit zeitaktuellen Kunstformen wie dem Kubismus und dem Futurismus, deren Vertreter im April 1912 sowohl in der Berliner "Sturm"-Galerie von Herwarth Walden als auch später auf der Internationalen Sonderbundausstellung in Köln zu sehen sind, mögen schleichend Einfluss auf Heckels malerisches wie auch sein grafisches Schaffen nehmen. Natur und Menschenbild erfahren 1912 einen grundlegenden Wandel und dies nicht zuletzt durch die Bekanntschaft mit Lyonel Feininger und Franz Marc. Marc, der Heckel und die anderen Mitglieder der "Brücke" für die zweite Ausstellung des "Blauen Reiter" gewinnen möchte, weiß am 10. Januar 1912 aus Berlin an Kandinsky über Heckel zu berichten: "der Sinn seiner Bilder scheint mir irgendwo ganz weit hinten im Bild zu liegen […]". Und am 18. Januar schreibt Marc erneut an Kandinsky: "Die Kunst Heckels ist sehr versteckt, mit seinem frommen, tiefen Sinn, der mehr das feine Echo, oder besser gesagt, der Gegenklang dessen ist, was man zuerst vor der Leinwand spürt; er schreckt ab, um einen nachher besser zu fassen." (Wassily Kandinsky Franz Marc. Briefwechsel, hrsg. v. Klaus Lankheit, München 1983, S. 110, 122) Anders als bei Kirchner, den das vom Milieu bestimmte Treiben der Großstadt begeistert und zu seinen berühmten Straßenszenen inspiriert, findet die neue Umgebung in geringem Maße Eingang in Heckels Bildwerke. Einige Stadtansichten und Alltagsszenen sind zwar auch bei ihm zu finden, doch konzentriert er sich im Wesentlichen auf das, was ihn stets fasziniert, was er auch hier mit dem Gemälde "Figuren am Strand" deutlich herausstellt: den Menschen und die Landschaft, die unmittelbare Erfassung eines gelebten, unbeschwerten Miteinanders in nackter Freiheit im Einklang mit der Natur, Ausdruck seiner Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Natureinheit. Heckels Blick richtet sich dabei stärker nach innen, auf die verschiedenen Emotionen und Sehnsüchte der Menschen: die Vereinzelung des Individuums. [MvL]



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Erich Heckel
Figuren am Strand, 1912.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 400.000
Ergebnis:
€ 865.000

(inklusive Aufgeld)