Auktion: 530 / Evening Sale / Sammlung Hermann Gerlinger am 10.06.2022 in München Lot 17

 

17
Ernst Ludwig Kirchner
Zwei am Tisch sitzende Mädchen, 1910.
Aquarell über schwarzer Kreide
Schätzung:
€ 70.000
Ergebnis:
€ 87.500

(inklusive Aufgeld)
Zwei am Tisch sitzende Mädchen. 1910.
Aquarell über schwarzer Kreide.
Verso mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570 b) und der handschriftlichen Registriernummer "A Dre/Bf 16". Auf glattem, chamoisfarbenem Velin. 44,9 x 34,8 cm (17,6 x 13,7 in), Blattgröße. [CH].

• Besonders kräftige, frische Farbgebung und -erhaltung.
• Intime Zeichnung aus dem Dresdner Atelier des Künstlers.
• Dargestellt ist Kirchners Lieblings-Modell dieser Zeit: Lina Franziska Fehrmann, gen. Fränzi.
• Die Besonderheit dieses Motivs nimmt Kirchner auch in bedeutenden Gemälden auf, bspw. in "Nackte Mädchen unterhalten sich" (Gordon 96, Museum Kunstpalast, Düsseldorf) und in "Nacktes Mädchen hinter Vorhang, Fränzi" (Gordon 154, Stedelijk Museum, Amsterdam)
.

Das vorliegende Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ:
Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946).
Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer, Stuttgart (1954).
Galerie R. N. Ketterer, Campione d'Italia (1967).
Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern.
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (verso mit dem Sammlerstempel Lugt 6032, 2001 vom Vorgenannten erworben).

AUSSTELLUNG:
Ernst Ludwig Kirchner zum 120. Geburtstag. Gemälde und Aquarelle, Zeichnungen, Galerie Henze & Ketterer, Wichtracht/Bern 2000, Kat.-Nr. 11.
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina, Wien, 1.6.-26.8.2007, Kat.-Nr. 141, S. 222f. (m. Abb.).
Inspiration des Fremden. Die Brücke-Maler und die außereuropäische Kunst, Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), 13.11.2016-29.1.2017, Kat.-Nr. 42 (m. Abb., S. 71).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).

LITERATUR:
Stuttgarter Kunstkabinett, Stuttgart, 36. Auktion, 1961, Los 203.
Galeria R. N. Ketterer, Campione d'Italia 1967, Kat.-Nr. 85.
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 312, SHG-Nr. 708 (m. Abb.).
Brückenschlag: Gerlinger - Buchheim! Museumsführer durch die "Brücke"-Sammlungen von Hermann Gerlinger und Lothar-Günther Buchheim, Feldafing 2017, S. 134 (m. Abb., S. 135).

Die Erinnerung Pechsteins an die erste Begegnung mit den jungen Modellen bringt Kirchner in einem Brief im April 1910 an Heckel auf den Punkt: "Hier ist es auch jetzt ganz gut. Marzella ist jetzt ganz heimisch geworden und entwickelt feine Züge. Wir sind ganz vertraut geworden, liegen auf dem Teppich und spielen. Es liegt ein großer Reiz in einem solchen reinen Weibe Andeutungen, die einen wahnsinnig machen können. Toller als in den älteren Mädchen. Freier, ohne daß doch das fertige Weibe verliert. Vielleicht ist manches bei ihr fertiger als bei den reiferen und verkümmert wieder. Der Reichtum ist sicher größer jetzt. Heute brachte sie ihre Freundin mit. 12 Jahre alt hat eine Schwester von 15. Das wird was für uns, hoffe ich." (Ernst Ludwig Kirchner an Erich Heckel, etwa April 1910, veröffentlicht in: Annemarie Dube-Heynig, Ernst Ludwig Kirchner. Postkarten und Briefe an Erich Heckel im Altonaer Museum in Hamburg, Köln 1984, Nr. 31). Kirchners Faszinosum für die Ausdrucksstärke des Artistenkindes ist deutlich spürbar, das unbekümmert, mit schlummernder Weiblichkeit vor den Augen der Künstler sich selbstsicher und sicherlich auch provozierend zu bewegen weiß.

Um die Existenz von Fränzi und Marcella ranken viele Geschichten, auch Begegnungen erotischer Art mit den Künstlern, die man mit den ungezählten Skizzen, Zeichnungen, Aquarellen und schließlich Gemälden erahnen kann. Sie sind so zahlreich, dass man diesem Mädchen und seiner Schwester nicht nur Buchkapitel, sondern eine ganze Ausstellung gewidmet hat. (Der Blick auf Fränzi und Marcella, Zwei Modelle der Brücke-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein, hrsg. von Norbert Nobis, Ausst.-Kat. Sprengel Museum, Hannover, Hannover 2010) Aber wer ist nun Marzella (auch Marcella)? Die ältere Schwester von Fränzi? Wer sind die Freundin von Fränzi und deren ältere Schwester, von der Kirchner an Heckel berichtet? Kirchner, Heckel und Pechstein zeichnen und malen wohl schon im Sommer 1909 zwei jugendliche Mädchen sowohl an den Moritzburger Teichen als auch in den Ateliers von Heckel und Kirchner. Hier jedenfalls sind es zwei Mädchen, die unbekleidet an einem Tisch sitzen und sich unterhalten. Sie sind gezeigt vor einem figurenreichen Hintergrund und den textilen Stoffbahnen, die Kirchners Atelier schmücken.

Die hinter den beiden Mädchen schemenhaft angedeutete Figur ist keine Skulptur, sondern es handelt sich hierbei, wie Wolfgang Henze in seiner Monografie mit Werkverzeichnis der Plastik Ernst Ludwig Kirchners beschreibt, um ein Aktrelief zu einer "nach drei Seiten abgeschrägten Sitzbank, nach vorne rund und auf den Schrägen mit Figuren bemalt" (Wolfgang Henze, Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners. Monographie mit Werkverzeichnis, Wichtrach/Bern 2002, S. 87 und S. 309). Es handelt sich hier also in dem Sinn um eine nicht freistehende Skulptur mit Gesicht, dichtem Haar und weiblich ausgeprägtem Oberkörper. Dieser von Kirchner geschnitzte und bemalte Atelierstuhl taucht als Requisit erstmals unter anderem in diesen Zeichnungen mit Fränzi (Marcella?) auf, findet sich wieder in weiteren Zeichnungen und Pastellen und dominiert das farbkräftige Gemälde "Fränzi vor geschnitztem Stuhl" von 1909/10, das sich heute in der Madrider Sammlung Thyssen-Bornemisza befindet. Dass Kirchner dieses Möbel je nach Einsatz als Hintergrund variiert, etwa hier in diesem Aquarell, und den Betrachter vermuten lässt, es handle sich um eine aus Afrika stammende Plastik, die er im Völkerkundemuseum entdeckt und hier andeutungsweise einfügt, zeigt, wie die zumeist selbst kreierte Einrichtung wie selbstverständlich in seinen Kompositionen Eingang findet. Dies veranschaulicht auch die Fotografie eines verschollenen Gemäldes, das die nackte Fränzi im Profil vor diesem Stuhl wiedergibt. [MvL]



17
Ernst Ludwig Kirchner
Zwei am Tisch sitzende Mädchen, 1910.
Aquarell über schwarzer Kreide
Schätzung:
€ 70.000
Ergebnis:
€ 87.500

(inklusive Aufgeld)