Auktion: 479 / Klassiker des 20. Jahrhunderts I am 08.12.2018 in München Lot 834

 

834
Ernst Ludwig Kirchner
Selbstporträt mit Gerda (Mann und Sitzende im Atelier), 1915.
Farbiges Pastell über Kohle
Schätzung:
€ 400.000
Ergebnis:
€ 500.000

(inkl. Käuferaufgeld)
Selbstporträt mit Gerda (Mann und Sitzende im Atelier). 1915.
Farbiges Pastell über Kohle.
Verso mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570b) und der handschriftlichen Registriernummer "FS Be/Bg 19". Auf leicht strukturiertem, chamoisfarbenem Bütten (mit Wasserzeichen "Stern über Turm"). 67,4 x 52 cm (26,5 x 20,4 in). [JS].

In diesem seltenen, großen Format wurden bisher erst 5 Zeichnungen Kirchners auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten (Quelle: www.artprice.com).

Die Arbeit ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ: Aus dem Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946, Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer 1954).
Galerie Nierendorf, Berlin 1963/65 (auf der Rahmenrückpappe mit handschriftlichem Vermerk).
Privatbesitz (beim Vorgenannten erworben und bei der nachfolgenden Auktion eingeliefert).
Sotheby's London, Auktion 1. Juni 1981, Los 343, mit Farbtafel.
Privatsammlung.
Privatsammlung Schweiz.

LITERATUR: Ernst Ludwig Kirchner, Zum fünfundzwanzigsten Todestag, Aquarelle, Bilder, Zeichnungen, Galerie Nierendorf, Berlin 1963, S. 28, Kat.-Nr. 67, mit Abb.
"Die künstlerische Qualität und Bedeutung dieses Pastells ist zweifellos außergewöhnlich. Vergleichbare Werke Kirchners befinden sich heute nahezu ausschließlich in Museumsbestand. Darüber hinaus hat Kirchner das hier gewählte große Papierformat nur äußerst selten verwendet. Es ist allein den Höhepunkten seines zeichnerischen Werkes gewidmet."
Dr. Wolfgang Henze, Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach, November 2018.
"Die Gestaltung des Menschen wurde durch meine 3te Frau, eine Berlinerin, die von nun an mein Leben teilte und deren Schwester stark beeinflusst. Die schönen architektonisch aufgebauten, strengförmigen Körper dieser beiden Mädchen lösten die weichen sächsischen Körper ab. [..] Das in Berlin so viel stärkere und mutigere Erleben, diese freie Kameradschaft mit der Frau [..] gab so viel Anregung zum Schaffen, dass ich völlig allein aus diesem Leben heraus neue Form schaffen konnte und sie damals zu einer Bestimmtheit vortrieb, dass ich mit ihr ohne weiteres an die Spitze der damaligen Berliner Moderne treten konnte."
E.L. Kirchner, Manuskript zu "Die Arbeit E. L. Kirchners", wahrscheinlich 1925/26 verfasst, zit. nach: Eberhard W. Kornfeld (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Nachzeichnung eines Lebens, Kunstmuseum Basel, Bern 1979, S. 336f.



In der farbigen Kreidezeichnung verschmelzen spontaner Entwurf aus dynamischen Strichen und bildhafte Erscheinung zu der vollendeten Komposition einer Atelierszene, in die der Betrachter hineingezogen wird. Kirchner hat den sitzenden Rückenakt zur bildbeherrschenden Figur gemacht. In dem Akt ist unschwer Erna Schillings jüngere Schwester Gerda an ihrer Schneckenfrisur zu erkennen. Die beiden Schwestern lernte Kirchner im Frühjahr 1912 in Berlin kennen, und er äußerte sich begeistert über „die schönen architektonisch aufgebauten, strengformigen Körper dieser beiden Mädchen.“ Dieser Körperbau scheint ihn zu der eindrucksvollen Rückenansicht beflügelt zu haben. Einer Bildsäule gleich, strebt der Rücken von dem Plüschsessel, der als Sockel fungiert, in die Höhe. Der Akt erscheint in seiner hellen Hautfarbe, da er von der delikaten farbigen Ausmalung des ganzen Blattes ausgespart ist. Wie Kirchner schrieb, kommt es nicht auf die einzelne Farbe an, sondern auf den Zusammenklang der Farben, der die atmosphärische Stimmung des Bildes erzeugt. Hier fällt besonders die Wechselwirkung zwischen dem lichten Violett des Sessels und dem Türkis der Kleidung des Malers auf, die auch dem nicht kolorierten Akt eine scheinbare Farbe verleiht. Das Gesicht des Aktes wäre eigentlich nicht zu sehen, aber Kirchner hat in der Zeichnung den Kopf ins Profil gewendet und die sinnlichen Lippen stark betont. Schwarzakzente mit erotischer Bedeutung sind auf den Stöckelschuh, das einzige Bekleidungsstück, und die Haarschnecke gesetzt. Die erotische Ausstrahlung der Figur greift auf die Dinge über, vor allem auf den Sessel, dessen Lehne zur Seite gekippt ist, und erfüllt wie ein Fluidum den ganzen Raum. Eigenartig ist nur, dass der Künstler selbst nicht davon erfasst wird. Er scheint auf das erotische Angebot nicht eingehen zu wollen. Sein verschlossenes Gesicht und seine übereinandergelegten Arme schaffen eine abschirmende Distanz, was seinen Grund darin haben könnte, dass nach drei Sommeraufenthalten mit Erna auf Fehmarn die Entscheidung für sie als Lebensgefährtin schon gefallen ist. Dennoch spielt Gerda in Konkurrenz zur Schwester ihre erotischen Reize vor Kirchner aus, und er ist so fasziniert von ihrer jugendlichen Schönheit, dass er sie in zwei Gemälden „Frauenkopf, Gerda“, 1914 (Solomon R. Guggenheim Museum, New York) und „Bildnis Gerda“, 1914/1926 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal) verewigt. Zahlreiche Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken aus dem Jahr 1914 zeigen Kirchners enges Zusammenleben mit den beiden Schwestern. Im Gemälde „Tanzschule“, 1914 (Bayerische Staatsgemäldesammlungen), dessen verharmlosenden Titel Kirchner wohl gewählt hat, um mit dem Bild keinen Anstoß zu erregen, spiegelt sich die Spannung des Dreierverhältnisses: Während Erna sich hingebungsvoll an Kirchner anlehnt und damit die feste Bindung ausdrückt, starrt dieser wie gebannt auf den leichtfüßigen Nackttanz von Gerda. Nach 1915 verliert sich die Spur von Gerda in Kirchners Leben.
Ein Pastell aus dem Brücke-Museum, das W. Grohmann mit dem Titel „Maler und nackte Frau“ in das Zeichnungsbuch von 1925 aufgenommen hat, ist in Stil, Farbigkeit und Größe dem vorliegenden Pastell so ähnlich, dass man es als ein Pendant vom selben Tag auffassen kann. Die beiden Arbeiten unterstützen und erklären sich gegenseitig als Momentaufnahmen aus Kirchners Leben. Die Szene hat sich verändert: Jetzt steht der Künstler hellwach vor dem runden Tisch im Vordergrund, und die nackte Frau, wieder ist Gerda an der Haarschnecke zu erkennen, reckt sich hinter ihm auf einer Liege. Der Rückenakt und die Figur des Künstlers sind in einer gewagten Komposition ineinander verschränkt. Im angebotenem Pastell ist die blaue Fläche um Gerdas Kopf nicht gegenständlich zu deuten, aber im Pastell aus dem Brücke-Museum gibt sie sich als Ansicht auf die Liege zu erkennen. Kirchner malt nie etwas aus dekorativen Gründen, auch abstrakte Formen beziehen sich auf die gegenständliche Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit konnte er am besten mit seinen schnell hingeworfenen Zeichnungen einfangen. Seine Wahrnehmungen und Empfindungen werden mit der zeichnenden Hand unmittelbar in Kunst übersetzt. Deshalb gehören die Pastelle, besonders diejenigen aus der späten Berliner Zeit, zu den schönsten Beispielen für Kirchners Kunst.
Günther Gercken



834
Ernst Ludwig Kirchner
Selbstporträt mit Gerda (Mann und Sitzende im Atelier), 1915.
Farbiges Pastell über Kohle
Schätzung:
€ 400.000
Ergebnis:
€ 500.000

(inkl. Käuferaufgeld)