Auktion: 554 / Modern Art Day Sale am 08.06.2024 in München Lot 407

 

407
Ernst Ludwig Kirchner
Straßenszene (Berlin), Um 1914.
Farbige Kreide und Bleistift
Schätzung:
€ 70.000
Ergebnis:
€ 88.900

(inklusive Aufgeld)
Straßenszene (Berlin). Um 1914.
Farbige Kreide und Bleistift.
Verso mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570 b) und der handschriftlichen Nummerierung "St. 114". Auf feinem Velin. 20,2 x 15,6 cm (7,9 x 6,1 in), blattgroß.


• E. L. Kirchners "Berliner Straßenszenen" gelten als absolute Höhepunkte seines künstlerischen Schaffens.
• 1911 zieht der Künstler in die Metropole Berlin und verarbeitet fortan die vielfältigen, auf den Straßen Berlins gesammelten Eindrücke in Zeichnungen, Druckgrafiken und Gemälden.
• Mit einer Vielzahl von Figuren, dicht ausgearbeiteter, bewegter Komposition, dynamischem Strich und kräftig-bunter Farbigkeit verkörpert diese Zeichnung das dichte Treiben der modernen Großstadt.
• 1968/69 ist sie Teil einer umfassenden retrospektiven Ausstellung in Seattle, Boston und Pasadena.
• Geschlossene Provenienz.
• Farblich derart stark ausgearbeitete Zeichnungen Kirchners "Straßenszenen" sind auf dem internationalen Auktionsmarkt eine große Seltenheit (Quelle: artprice.com)
.

Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946, verso mit dem Nachlassstempel).
Galerie Nierendorf, Berlin (vom Vorgenannten erworben).
Wolfgang Wittrock Kunsthandel, Berlin (2007 vom Vorgenannten erworben).
Olbricht Collection, Essen/Berlin (2007 vom Vorgenannten erworben).

AUSSTELLUNG: Ernst Ludwig Kirchner. A Retrospective Exhibition, Seattle Art Museum, 23.11.1968-5.1.1969; Pasadena Art Museum, 6.1.-23.2.1969; Museum of Fine Arts, Boston, 20.3.-27.4.1969, Kat.-Nr. 85 (m. Abb.).
Künstler der Brücke in Berlin 1908-1914, Brücke-Museum, Berlin, 1.9.-26.11.1972, Kat.-Nr. 1 (m. Abb., Tafel 18).
Ernst Ludwig Kirchner, Galerie Nierendorf, Berlin, 7.4.-8.9.2006, Kat.-Nr. 51 (m. Abb.).
De Tiepolo à Richter. L'Europe en dialogue, Musée Arte & Histoire, Brüssel, 24.5.-30.9.2018.

LITERATUR: Magdalena M. Moeller, Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913-1915, München 1993, S. 177, Kat.-Nr. 26 (m. ganzs. Farbabb.).

"Mit den Berliner 'Straßenszenen' hat Kirchner seine bedeutendste Werkgruppe geschaffen. [..] Sie sind das Produkt der modernen Großstadt. [..] Schnelligkeit des Erfassens, Simultaneität der Bewegungen und Eindrücke, höchste Anspannung und Empfindung, ein stakkatohafter Zeichen- bzw. Malstil sind die Kennzeichen dieser Arbeiten, die Kirchner in allen Techniken schuf und die einen Höhepunkt in seinem Werk darstellen."

Magdalena M. Moeller, zit. nach: Magdalena M. Moeller, Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913-1915, München 1993, S. 24.

Nach den so richtungsweisenden, prägenden "Brücke"-Jahren in Dresden folgt E. L. Kirchner seinen Künstlerkollegen Hermann Max Pechstein und Otto Mueller im Herbst 1911 in die Großstadt Berlin. Um 1900 ist die Stadt nicht nur zu einem der aufregendsten kulturellen Zentren aufgestiegen, sondern ist auch die am schnellsten wachsende Metropole Europas. Nach der Jahrhundertwende tobt hier das Leben: Kaufhäuser, Bars, Varietés und Tanzlokale sprießen aus dem Boden. Die Gleichzeitigkeit von Glanz und Elend, von Armut, Arbeitslosigkeit und Prostitution, von Modernität, Umbruch und mondänem Wohlstand sowie die Schnelllebigkeit, die Hektik und die Vielzahl der auf engstem Raum lebenden Menschen überfordern den Künstler zum einen, inspirieren ihn zum anderen jedoch auch zur Ausbildung seines reiferen "Berliner Stils" und veranlassen ihn zu den innerhalb seines künstlerischen Schaffens bedeutendsten Arbeiten, darunter seine berühmten "Straßenszenen", die heute als Schlüsselwerke des deutschen Expressionismus gelten. Die wenigen Gemälde dieser Werkreihe befinden sich heute in bedeutenden Museen, u. a. im Museum of Modern Art, New York, im Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid, in der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, im Museum Folkwang, Essen, im Museum Ludwig, Köln, in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, im Von der Heydt-Museum, Wuppertal, und in der Staatsgalerie Stuttgart.

Zu diesen herausragenden Kompositionen gelangt E. L. Kirchner über die Zeichnung. In flüchtigen Skizzen, aber auch in komplexeren, durchdachten und zum Teil – wie in unserem Werk – farbigen Kompositionen, und später auch in großformatigeren Blättern (bspw. "Berliner Straßenszene", um 1914, Städel Museum, Frankfurt a. Main) entwirft der Künstler ein den Gemälden vorausgehendes, dynamisches und unmittelbares Bild seiner Berliner Eindrücke, ein Porträt der anonymen, getriebenen Menschenmasse der modernen Großstadt. Im grellen Kunstlicht der Straßenbeleuchtung und Schaufenster stehen dicht gedrängt Passanten, begegnen sich, scheinen miteinander zu sprechen oder wenden sich voneinander ab. Kirchner beobachtet das Treiben an diesem bewegten Ort, nimmt ihn mit fokussiertem Blick auf, reduziert das Umfeld und konzentriert mit dieser Zeichnung dennoch das Monumentale der Großstadt. Kräftige Striche mit farbigen Kreiden betonen erste Konturen der Figuren, setzen sie kontrastreich ab vor dem Hintergrund der perspektivisch gesehenen Fassaden im Neonlicht der Reklametafeln.

Über seine eigenen "Straßenszenen" schreibt Kirchner unter einem Pseudonym 1925 rückblickend: "Kirchner fand, dass das Gefühl, was über einer Stadt liegt, sich darstellt in der Art von Kraftlinien. In der Art, wie sich die Menschen im Gedränge komponieren, ja in den Bahnen, wie sie liefen, fand er die Mittel, jeweils das Erlebte zu fassen. Es gibt Bilder und Grafiken von ihm, wo ein reines Liniengerüst mit fast schematischen Figuren doch aufs lebendigste Strassenleben darstellt." (Kirchner als "Louis de Marsalle" über sein eigenes Werk, zit. nach: Lothar Grisebach, E. L. Kirchners Davoser Tagebuch, Wichtrach/Bern 1997, S. 78) [CH/MvL]



407
Ernst Ludwig Kirchner
Straßenszene (Berlin), Um 1914.
Farbige Kreide und Bleistift
Schätzung:
€ 70.000
Ergebnis:
€ 88.900

(inklusive Aufgeld)