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19
Ernst Ludwig Kirchner
Tanz im Varieté, 1911.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 2.000.000 Ergebnis:
€ 6.958.000 (inklusive Aufgeld)
Tanz im Varieté. 1911.
Öl auf Leinwand.
121 x 148 cm (47,6 x 58,2 in).
Das Werk ist im Photoalbum I des Künstlers enthalten (Photo 171). [CH].
• Spektakuläre Wiederentdeckung: seit 80 Jahren in einer deutschen Privatsammlung verborgen.
• Standort und Farbgebung waren der Wissenschaft bisher nicht bekannt: Das Werk war ausschließlich durch Schwarz-Weiß-Fotografien des Künstlers belegt.
• Drei Fotografien zeigen das Gemälde in Kirchners Haus "In den Lärchen" in Davos.
• Kurz nach Entstehung in der bahnbrechenden "Brücke"-Ausstellung im Berliner Kunstsalon Fritz Gurlitt (1912) präsentiert, der ersten und letztendlich einzigen Gruppenpräsentation der "Brücke"-Künstler in Berlin.
• Gemälde von außergewöhnlich großem Format aus der besten "Brücke"-Zeit.
• Ikonisches Gemälde aus dem für Kirchners Œuvre so bedeutenden Motivkreis Tanz, Zirkus und Varieté.
• Als malerische Momentaufnahme aus dem Nachtleben in einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs verkörpert "Tanz im Varieté" ebenso die Essenz der modernen Großstadt wie Kirchners berühmte, ab 1913 entstehenden Berliner Straßenszenen.
Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.
Eine Ausfuhr aus Deutschland ist möglich.
Wir danken Dr. Tessa Rosebrock, Kunstmuseum Basel, für die freundliche wissenschaftliche Beratung.
Wir danken den Nachfahren von Max Glaeser für die freundliche Unterstützung der Recherchen.
PROVENIENZ: Atelier des Künstlers, Davos (bis mindestens Ende 1923).
Sammlung Max Glaeser (1871-1931), Kaiserslautern-Eselsfürth (wohl zwischen 1928 und 1931 im Kunsthandel erworben).
Sammlung Anna Glaeser, geb. Opp (1864-1944), Kaiserslautern-Eselsfürth (1931 durch Erbschaft vom Vorgenannten).
Privatsammlung Baden-Württemberg (1944 aus der Erbmasse der Vorgenannten erworben, durch Vermittlung von Dr. Lilli Fischel und der Galerie Günther Franke, München).
Seitdem in Familienbesitz.
AUSSTELLUNG: Brücke, Kunstsalon Fritz Gurlitt, Berlin, 2.4.-24.4.1912.
Ernst Ludwig Kirchner. Gemälde, Kunstsalon Paul Cassirer, Berlin, ab 15.11.1923 (m. d. Titel "Stepptanz").
LITERATUR: Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde, München/Cambridge (Mass.) 1968, WVZ-Nr. 196 (m. d. Titel "Steptanz", m. SW-Abb., S. 302).
- -
Karl Scheffler, Ernst Ludwig Kirchner, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe, Nr. XVIII/5, Heft 5, 1920, S. 219 (m. SW-Abb., S. 219).
Annemarie Dube-Heynig, Ernst Ludwig Kirchner. Postkarten und Briefe an Erich Heckel im Altonaer Museum in Hamburg, Köln 1984, S. 252 (m. d. Titel "Steptanz", m. SW-Abb.).
Johanna Brade, Die Zirkus- und Varietébilder der "Brücke (1905-1913): Zwischen Bildexperiment und Gesellschaftskritik. Zu Themenwahl und Motivgestaltung (Diss.), Berlin 1993, Kat.-Nr. 75.
Lothar Grisebach (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tagebuch, Ostfildern 1997, S. 337 u. 339 (Fotografien, m. d. Titel "Stepptanz").
Roland Scotti (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Das fotografische Werk, Wabern/Bern 2005, S. 117 (Fotografie).
Hans Delfs (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel ("Die absolute Wahrheit, so wie ich sie fühle"), Zürich 2010, Nr. 1193 u. 1440 (hier falsch zugeordnet).
Thorsten Sadowsky (Hrsg.), Ausst.-Kat. Ernst Ludwig Kirchner. Der Künstler als Fotograf, Kirchner Museum Davos, 22.11.2015-1.5.2016, S. 44, 66, 76, 82 u. 150 (Fotografien).
Thorsten Sadowsky (Hrsg.), Louis de Marsalle. Visite à Davos, Heidelberg 2018 (m. d. Titel "Stepptanz", m. SW-Abb., S. 11, Nr. 2).
Thorsten Sadowsky, "Und der Bauchtanz ging den ganzen Vormittag". Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tänze, in: KirchnerHAUS Aschaffenburg / Brigitte Schad (Hrsg.), Ausst.-Kat. Kirchners Kosmos: Der Tanz, KirchnerHAUS Aschaffenburg, München 2018, S. 41 (m. d. Titel "Stepptanz", m. SW-Abb., S. 42, Nr. 4).
Susanne Lux, Sie dürfen um diesen Tanz bieten!, in: Weltkunst, Juni 2024, S. 76f. (m. Farbabb.).
ARCHIVALIEN: Künzig, Dr. Brunner, Dr. Koehler Rechtsanwälte, Mannheim (Nachlassverwaltung Glaeser): Angebot von Gemälden aus Sammlung Max Glaeser, 1931, Archiv des Kunstmuseums Basel, Signatur F 001.024.010.000: "Varietészene“.
Galerie Buck, Mannheim: Angebot Gemälde u. a. von Arnold Böcklin, Lovis Corinth, Anselm Feuerbach, Ernst Ludwig Kirchner, Hans von Marées, Edvard Munch, Heinrich von Zügel, Sammlung Max Glaeser, 1932, Archiv des Kunstmuseums Basel, Signatur F 001.025.002.000: "Variete" (sic).
Stadtarchiv Düsseldorf, Bestand: 0-1-4 Stadtverwaltung Düsseldorf von 1933-2000 (alt: Bestand IV), Angebote und Ankäufe, Sign. 3769.0000, fol. 175-177.
Nachlass Donald E. Gordon, University of Pittsburgh, Gordon Papers, Series 1, Subseries 1, Box 1, Folder 197.
Öl auf Leinwand.
121 x 148 cm (47,6 x 58,2 in).
Das Werk ist im Photoalbum I des Künstlers enthalten (Photo 171). [CH].
• Spektakuläre Wiederentdeckung: seit 80 Jahren in einer deutschen Privatsammlung verborgen.
• Standort und Farbgebung waren der Wissenschaft bisher nicht bekannt: Das Werk war ausschließlich durch Schwarz-Weiß-Fotografien des Künstlers belegt.
• Drei Fotografien zeigen das Gemälde in Kirchners Haus "In den Lärchen" in Davos.
• Kurz nach Entstehung in der bahnbrechenden "Brücke"-Ausstellung im Berliner Kunstsalon Fritz Gurlitt (1912) präsentiert, der ersten und letztendlich einzigen Gruppenpräsentation der "Brücke"-Künstler in Berlin.
• Gemälde von außergewöhnlich großem Format aus der besten "Brücke"-Zeit.
• Ikonisches Gemälde aus dem für Kirchners Œuvre so bedeutenden Motivkreis Tanz, Zirkus und Varieté.
• Als malerische Momentaufnahme aus dem Nachtleben in einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs verkörpert "Tanz im Varieté" ebenso die Essenz der modernen Großstadt wie Kirchners berühmte, ab 1913 entstehenden Berliner Straßenszenen.
Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.
Eine Ausfuhr aus Deutschland ist möglich.
Wir danken Dr. Tessa Rosebrock, Kunstmuseum Basel, für die freundliche wissenschaftliche Beratung.
Wir danken den Nachfahren von Max Glaeser für die freundliche Unterstützung der Recherchen.
PROVENIENZ: Atelier des Künstlers, Davos (bis mindestens Ende 1923).
Sammlung Max Glaeser (1871-1931), Kaiserslautern-Eselsfürth (wohl zwischen 1928 und 1931 im Kunsthandel erworben).
Sammlung Anna Glaeser, geb. Opp (1864-1944), Kaiserslautern-Eselsfürth (1931 durch Erbschaft vom Vorgenannten).
Privatsammlung Baden-Württemberg (1944 aus der Erbmasse der Vorgenannten erworben, durch Vermittlung von Dr. Lilli Fischel und der Galerie Günther Franke, München).
Seitdem in Familienbesitz.
AUSSTELLUNG: Brücke, Kunstsalon Fritz Gurlitt, Berlin, 2.4.-24.4.1912.
Ernst Ludwig Kirchner. Gemälde, Kunstsalon Paul Cassirer, Berlin, ab 15.11.1923 (m. d. Titel "Stepptanz").
LITERATUR: Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde, München/Cambridge (Mass.) 1968, WVZ-Nr. 196 (m. d. Titel "Steptanz", m. SW-Abb., S. 302).
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Karl Scheffler, Ernst Ludwig Kirchner, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe, Nr. XVIII/5, Heft 5, 1920, S. 219 (m. SW-Abb., S. 219).
Annemarie Dube-Heynig, Ernst Ludwig Kirchner. Postkarten und Briefe an Erich Heckel im Altonaer Museum in Hamburg, Köln 1984, S. 252 (m. d. Titel "Steptanz", m. SW-Abb.).
Johanna Brade, Die Zirkus- und Varietébilder der "Brücke (1905-1913): Zwischen Bildexperiment und Gesellschaftskritik. Zu Themenwahl und Motivgestaltung (Diss.), Berlin 1993, Kat.-Nr. 75.
Lothar Grisebach (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tagebuch, Ostfildern 1997, S. 337 u. 339 (Fotografien, m. d. Titel "Stepptanz").
Roland Scotti (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Das fotografische Werk, Wabern/Bern 2005, S. 117 (Fotografie).
Hans Delfs (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel ("Die absolute Wahrheit, so wie ich sie fühle"), Zürich 2010, Nr. 1193 u. 1440 (hier falsch zugeordnet).
Thorsten Sadowsky (Hrsg.), Ausst.-Kat. Ernst Ludwig Kirchner. Der Künstler als Fotograf, Kirchner Museum Davos, 22.11.2015-1.5.2016, S. 44, 66, 76, 82 u. 150 (Fotografien).
Thorsten Sadowsky (Hrsg.), Louis de Marsalle. Visite à Davos, Heidelberg 2018 (m. d. Titel "Stepptanz", m. SW-Abb., S. 11, Nr. 2).
Thorsten Sadowsky, "Und der Bauchtanz ging den ganzen Vormittag". Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tänze, in: KirchnerHAUS Aschaffenburg / Brigitte Schad (Hrsg.), Ausst.-Kat. Kirchners Kosmos: Der Tanz, KirchnerHAUS Aschaffenburg, München 2018, S. 41 (m. d. Titel "Stepptanz", m. SW-Abb., S. 42, Nr. 4).
Susanne Lux, Sie dürfen um diesen Tanz bieten!, in: Weltkunst, Juni 2024, S. 76f. (m. Farbabb.).
ARCHIVALIEN: Künzig, Dr. Brunner, Dr. Koehler Rechtsanwälte, Mannheim (Nachlassverwaltung Glaeser): Angebot von Gemälden aus Sammlung Max Glaeser, 1931, Archiv des Kunstmuseums Basel, Signatur F 001.024.010.000: "Varietészene“.
Galerie Buck, Mannheim: Angebot Gemälde u. a. von Arnold Böcklin, Lovis Corinth, Anselm Feuerbach, Ernst Ludwig Kirchner, Hans von Marées, Edvard Munch, Heinrich von Zügel, Sammlung Max Glaeser, 1932, Archiv des Kunstmuseums Basel, Signatur F 001.025.002.000: "Variete" (sic).
Stadtarchiv Düsseldorf, Bestand: 0-1-4 Stadtverwaltung Düsseldorf von 1933-2000 (alt: Bestand IV), Angebote und Ankäufe, Sign. 3769.0000, fol. 175-177.
Nachlass Donald E. Gordon, University of Pittsburgh, Gordon Papers, Series 1, Subseries 1, Box 1, Folder 197.
Hätte er später gelebt, hätte er womöglich auch das Tanzwunder Michael Jackson gemalt. Der Künstler Ernst Ludwig Kirchner, der mit großem Vergnügen in den Zirkus ging, das Varieté liebte, Gret Palucca und Mary Wigman in ihren Studios besuchte, sich von Josefine Bakers "Revue Nègre" in Berlin erzählen ließ, war verrückt nach Tanz, nach begnadeten Körpern und nach Schwarzen Modellen. Die Zirkusartisten Milly und Sam lädt er in sein Dresdner Atelier, man trinkt, verkleidet sich und übt Ragtime. Seine Skizzenbücher sind voller angerissener Zeichnungen und Tanzposen. Aus diesen ekstatischen Bewegungsnotizen entspringen, manchmal Jahre später, die Formentscheidungen für seine Malerei, darunter Gemälde wie "Russische Tänzerin" (1911) "Tanzpaar" (1911, Kunstsammlung NRW, K20, Düsseldorf) und "Totentanz der Mary Wigman" (1926/28) - alle drei Ikonen der Moderne.
Seit 100 Jahren gilt das Bild als verschollen. Sein Wiederauftauchen ist eine Sensation.
Das Gemälde "Tanz im Varieté" hat nahezu 100 Jahre buchstäblich im Hintergrund der Kunstgeschichte auf seinen Auftritt gewartet. Kirchner hat das Bild mehrfach fotografiert. Die erste Aufnahme dokumentiert eine Ausstellung der "Brücke"-Maler im Frühjahr 1912 im Berliner Kunstsalon des Galeristen Fritz Gurlitt (Abb.). Die Kamera leitet den Blick durch ein monumentales Holzportal, rechts flankiert von einer Holzfigur Kirchners, und steuert auf die prominent platzierte, großformatige Varietészene auf der Rückwand des Saals zu. Eine spätere Fotografie zeigt eine ausgelassene Szene im Haus "In den Lärchen" in Davos (Abb.). Ein tanzendes Bauernpaar, links der Maler, wie teilnahmslos, hinter ihm zu sehen das Gemälde "Tanz im Varieté", ungerahmt, nachlässig an die Wand gepinnt, halb verdeckt von einem abgestellten Liegestuhl. Das Foto mit Selbstporträt stammt von 1919. Auf Wunsch des Kunstkritikers Karl Scheffler hat Kirchner 1920 eine fotografische Reproduktion angefertigt; sie wird zusammen mit Schefflers Aufsatz über Kirchners nervöse, hochintuitive Arbeitsweise in der Zeitschrift "Kunst und Künstler" veröffentlicht. Zum letzten Mal ausgestellt wird "Tanz im Varieté" Ende 1923 bei Paul Cassirer in Berlin. Danach verlieren sich seine Spuren. Das Bild verschwindet aus der Öffentlichkeit. Seit 100 Jahren gilt es als verschollen. Sein Wiederauftauchen ist eine echte Sensation.
Die Moderne kommt auf der Bühne und auf der Straße zur Welt.
Was sehen wir? Kirchner schildert uns, was in den Metropolen Europas ab 1900 den Nerv der Zeit trifft und auf den Tanzflächen einen regelrechten Hype auslöst. Vorn, im Scheinwerferkegel, sehen wir eine Cakewalk-Szene zwischen einem Schwarzen Tänzer und einer weißen Tänzerin, eingefasst von einer Gruppe weiterer Tänzerinnen und Tänzer. Die Umrisslinien der Körper füllt Kirchner mit farbigen Flächen. Eine konzentrierte Farbskala aus Rot- und Rosétönen dominiert. Der Kontrast zwischen dunkler und heller Haut ist deutlich markiert. Im Hintergrund ist eine Varieté-Kulisse zu erkennen. Pastellgrüne Ornamente einer Balustrade und eine Palmenreihe deuten einen Wintergarten an. Tanz im Varieté ist eine Hommage an das goldene Zeitalter der Unterhaltungskünstler, die vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren Showtänzen das Publikum in Ekstase versetzen. Das Gemälde zählt zu den letzten Werken, die in Dresden zum Motivkreis Zirkus und Varieté entstehen, bevor Ernst Ludwig Kirchner sich in Berlin dem Theater der Straße zuwendet. Das Werk ist von raumgreifendem Charisma. Es gehört zu einer Handvoll großer Formate, mit denen Kirchner innerhalb des "Brücke"-Kreises als Ausnahmekünstler herausragt.
Die Moderne kommt auf der Bühne und auf der Straße zur Welt. Die Kombination von Würde und Eleganz, das Raffinement der Mode und die Exzentrik neuer Tanzformen verleihen den Menschen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Aura des Erfolgs und der Unnahbarkeit. Das Flair des Kosmopolitischen und die mondäne Kälte hat kaum jemand so differenziert wahrgenommen wie Ernst Ludwig Kirchner. Er konnte mit unbeweglichen Akademieakten oder starren Ballettposen nichts anfangen und suchte nach Inspiration im Zusammenleben mit Menschen. Auf den Straßen und Plätzen der Metropolen, in den Varietés und Music Halls werden neue Körperbilder, Rollen und Bewegungskulturen eingeübt. Zeichnend und malend setzt Kirchner die gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen in Szene. Seine Bilder sind Gegenwartsbeschreibungen. Sie sensibilisieren geradezu modellhaft für die soziale Schieflage seiner Figuren. Kirchner lässt sie darstellen, wie aussichtslos die Glücksversprechungen einer Gesellschaft sind, in der an den Körpern schon die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ablesbar ist.
Man muss sich die Theater zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie eine pulsierende Unterhaltungsmaschinerie vorstellen, eine Art Totaltheater für eine Massengesellschaft auf der Suche nach unheiligen Wundern. Das Publikum des Deutschen Kaiserreichs lechzt nach Sensationen, nach Showgrößen von internationalem Ruf. In Dresden gehören in diesen Jahren das Central-Theater, das Flora-Varieté mit seiner Sommerbühne im Garten des Hotel Hammer (Abb.) und der Circus Albert Schumann zu den ersten Adressen für Akrobatik mit viel Körpereinsatz, Zaubertricks und Glamour. Sarah Bernhardt, Harry Houdini und Eleonora Duse kommen nach Dresden. Ensembles aus Indien, China und den USA treten in den Tanzgaststätten auf. Die Welt ist hier zu Gast. Die berühmte Zeile aus André Hellers Album "Nr.1" kommt einem hier in den Sinn: "Überall tragen die Menschen einen Zirkus unter dem Herzen, mit richtigen Seiltänzern ?". Bei Kirchner und seinem Malerfreund Erich Heckel muss der Platz unter dem Herzen mächtig groß wie eine Manege gewesen sein. Sie zeichnen, malen und drucken zwischen 1908 und 1914 hunderte von Blättern mit Motiven aus Zirkus, Tingeltangel und Varieté.
Der Cakewalk
Zu den populärsten Tanzformen gehört in diesen Jahren der Cakewalk, dessen Wurzeln sich bis in die Sklavenzeit zurückverfolgen lassen. Ursprünglich waren es Afroamerikaner, die in Tanzwettbewerben die Tänze der weißen Herrschaft lächerlich machten. Das Siegerpaar bekam einen Kuchen als Preis, daher der Name: Cakewalk - Kuchenpromenade. Von den Plantagenfesten migriert der Tanz auf die Bühnen der Nordstaaten, wo ihn Weiße in der Maske des Blackface übernehmen. Um die Jahrhundertwende finden dann immer mehr afroamerikanische Künstlerinnen und Künstler Zugang zu den Theaterbühnen. Sie touren durch Europa und fordern in eleganter Abendgarderobe und mit freizügigen Ragtime-Rhythmen die Gesellschaftstänze des bürgerlich-aristokratischen Parketts heraus. Die Illustrierte "Elegante Welt" widmet diesem Zeitgeist eine eigene "Ball-Nummer" und beobachtet, dass sich die Tanzformen der guten Gesellschaft von denen der Demimonde tatsächlich kaum mehr unterscheiden lassen (K. O. Ebner, Von der Quadrille zum "Turkey trot", in: Elegante Welt, 1912, Heft 8, S. 16). Schritt-für-Schritt-Anleitungen und Tanzschulen demokratisieren den Modetanz. Jeder kann ihn erlernen. Er wird wie eine Promenade in offener Paarhaltung getanzt, individuell und nicht nach Schema. Ein Tanz für alle, diesseits und jenseits der Colorlines.
Auch in Deutschland beginnt die Durchmischung der Kulturen auf den Tanzflächen. Der Südstaatentanz wird hier zu einem beliebten Importgut aus den USA. Im Oktober 1901 treffen das Tanzpaar Dora Dean und Charles Johnson aus New York in Berlin ein und treten auf der Bühne des Wintergarten-Theaters in der Friedrichstraße auf. Die Lousiana Amazon Guards geben im Dezember im Circus Schumann ihre erste Show in Deutschland (vgl. Rainer E. Lotz, The "Lousiana Troupes" in Europe, in: The Black Perspective in Music, Autumn, 1983, Vol. 11, No. 2, S. 135). Die Barfußtänzerin Mildred Howard de Grey tanzt 1903 in einer Zugabe die erste Cakewalk-Szene in Dresden (vgl. Dresdner Neueste Nachrichten, 18.7.1903). In Berlin werden die frivolen Auftritte der Danseusen und der weltmännische Chic Schwarzer Figuren in Frack und Zylinder ein Stereotyp mit mehreren second level messages: ihre "echte" Schwarze Hautfarbe steht für ein Authentizitätsversprechen, für eine ekstatische, spontane Lebensführung und eine Mischung aus Unterordnung und Selbstbehauptung. Der polemische Gestus des Tanzes bleibt als Subtext erhalten, etwa indem die Cakewalk-Tänzer die aufrechte Haltung des klassischen Tanzes in die Schieflage bringen, dazu frivoles Beckenkreisen, schlackernde Knie und blitzschnelle, taktklopfende Fußbewegungen. "Der Cakewalk", schreibt die Historikerin Astrid Kusser, "markiert den Einbruch schwarzer Kultur in Europa" (Astrid Kusser, Arbeitsfreude und Tanzwut im (Post)-Fordismus, in: Body Politics 1 (2023), Heft 1, S.47).
Die Entstehung Schwarzer Modetänze kreuzte sich mit einem andern Zeitphänomen, der Verbreitung unterhaltsamer Bildpostkarten und satirischer Werbegrafiken. Afroamerikanische Motive zirkulieren zwischen Europa und den USA, sie sind Teil alltäglicher Kommunikation, nicht selten mit rassistischen oder sexistischen Zwischentönen. Zu den beliebtesten Motiven zählen Tanzszenen. Der tanzende Schwarze Dandy - wie Kirchner ihn hier prominent in Szene setzt - gehört zu den Prime Movers des Modern Dance. Mit seinen selbstbewussten Ansprüchen auf Glück und Sichtbarkeit werden die Ausdrucksformen der Schwarzen Diaspora neu verhandelbar. Durch die Tore, die diese Grenzgänger aufgestoßen haben, bricht der Tanz ins 20. Jahrhundert auf.
Kirchners Expressionismus: ein Patchwork der Kulturen
Wie der neue deutsche Tanz ist auch der Expressionismus der "Brücke"-Maler ein Patchwork der Kulturen im Schatten eines spätautokratischen Regimes. Kirchner, ein äußerst akribischer Chronist seines Schaffens, hat seine Prozesse der Aneignung selbst dokumentiert. Sein Foto-Archiv, die Tagebücher, Briefe und Skizzenbücher sind eine geradezu vorbildliche Spurensicherung, die es ermöglicht, die Provenienz jeder Geste, jedes Motivs, jeder Form ziemlich genau zu rekonstruieren. Eine Serie von Vorstufen, verwandter Motive und Zeichnungen ergeben Querverbindungen zu anderen Gemälden und Künstlern. Besonders seine enge Freundschaft zu Erich Heckel gibt eine Reihe von Hinweisen auf den Entstehungskontext, das Sujet und den Schauplatz des Varieté-Gemäldes. Natur, Körper und Bewegung - das sind in diesen Jahren die bestimmenden Themen der Malerfreunde. Als im Vorfeld der großen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden ein Plakatwettbewerb ausgerufen wird, bewerben sich die beiden mit dem gemeinsamen Entwurf eines Bogenschützen-Motivs. Ausgezeichnet wird zwar ein anderer Entwurf, aber Kirchners und Heckels Plakatvorschlag erhält eine lobende Erwähnung (vgl. Bernd Hünlich, Heckels und Kirchners verschollene Plakatentwürfe für die Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911, in: Dresdener Kunstblätter, 1984, Heft 28, S. 145-151). Kirchners Lithografie "Cake Walk" (Abb.) und das Aquarell "Tanzszene (Stepptanz)" (Abb.) - beide Blätter lassen sich ganz offensichtlich als Vorstufen zu "Tanz im Varieté" einordnen - sind formal und motivisch der Lithografie "Tänzerinnen" (Abb.) von Heckel so ähnlich, dass man sicher vermuten darf, dass die beiden Maler im Sommer 1911 in Dresden denselben Tanzabend besucht haben.
Häufig zeigt sich, dass Kirchners Bilder eigentlich farbige Umformungen seiner stenogrammartigen Zeichnungen sind. Das gilt ganz besonders für seine Tanzmotive. Gut möglich, dass er für die Ausarbeitung seines Skizzenmaterials zu einem Gemälde seine eigenen Seherfahrungen mit Bildern aus zweiter Hand, aus Zeitschriften oder von Werbe- und Witzpostkarten, verstärkt hat. Ob das im Falle des Varietétanzes noch in Dresden passiert ist oder aber bereits in Berlin, wohin er im Oktober 1911 sein Atelier verlegt, das lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Interessant ist hier das ästhetische Verfahren.
Die Moderne wäre nicht vorstellbar ohne das Spiel von Aneignung, Zitat und Collage. Auch die Intensität der expressionistischen Malerei ist eng verbunden mit der Fähigkeit, Gleiches und Ungleiches zusammenzuführen. Das Durchmischte und Hybride gehört geradezu zum Gestaltungskern der Künstlergruppe am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Das Gemälde "Tanz im Varieté" führt uns an ein Moment der Moderne, ab dem sich Dinge zu verändern beginnen: Gesten, Geschlechterverhältnisse, Herrschaftsformen, das Verhältnis zu unserem Körper und zu anderen Kulturen.
Ein Werk wie das von Ernst Ludwig Kirchner sensibilisiert geradezu modellhaft für den loopartigen Austausch von bis dahin ungekannten, abstrakten Formen zwischen Europa, Afrika und den USA, die sich - zunehmend untrennbar - zu verweben und zu verflechten beginnen. Kirchners Blick für kinetisch überbegabte Temperamente führt uns über die Geschichte des Tanzes vor Augen, wie neue Expressionismen in der Kunst aus Begegnungen und Beziehungen zwischen den Kulturen entstehen.
Oft sehen wir Menschen oder Dinge, die lange unserem Blick entzogen waren, neu, klarer, vielschichtiger. So stellt auch dieses Gemälde "Tanz im Varieté" nochmal die ganz großen Fragen: nach Sehnsucht, Schönheit, Respekt und nach dem Zusammenleben in Gemeinschaften. Es spricht davon auf ganz gegenwärtige Weise, temperamentvoll und zärtlich zugleich.
Marietta Piekenbrock
Skizze - Zeichnung - Ölgemälde
Stationen auf dem Weg zur Vollendung
Diese Situation hat Ernst Ludwig Kirchner geliebt - und ein Leben lang immer wieder aufgesucht: der Mensch in Bewegung, sei es in freier Natur, am Meer, im Atelier, unter der Zirkuskuppel, im Theater, Kabarett, oder, wie hier, auf der Bühne eines Varietés, eingehüllt in das wirbelnde Staccato des Stepptanzes und die eingängigen Rhythmen des Cakewalk. Von dem, was er sah und erlebte, bis zu dem, was er in "heiligen Zeichen" (Hieroglyphen) niederschrieb, war der Weg nicht lang. So auch hier. Ein Varietébesuch - und da war er, der Augenblick, in dem alles zusammenkam, in dem sich alles entschied.
Ohne jedes Zögern zieht Kirchner sein Skizzenbuch hervor, füllt "in der Ekstase des ersten Sehens" ein erstes Blatt mit schnell und sicher hingeworfenen Linien: die Tänzerin in einem weit schwingenden Kostüm, den Schritt abgestimmt auf ihren Tanzpartner, der, in Frack und Zylinder, das wirbelnde Geschehen vorantreibt. (Abb.)
Und dann sogleich das nächste Blatt mit abgerundeten Ecken und Rotschnitt: Kirchner hat seinen Platz gewechselt, blickt zwischen einem vor ihm sitzenden Paar hindurch auf die Bühne. Die Tänzerin zeigt nun als Blickfang eine große Blume im unteren Teil ihres Kostüms. Und der Tänzer trägt, hochelegant, einen langen, bis in die Kniekehlen reichenden "Schwalbenschwanz". (Abb.)
Später am Abend, vermutlich nach Rückkehr in die Stille des Ateliers, brodelt es immer noch heftig im Künstler: Auf einem größeren Blatt (26 x 36 cm) verdichtet er die Szene. Das gesamte Ensemble mit drei weiteren Tänzerinnen und einem Tänzer tritt auf. (Abb.) Wunderbar, dass sich dann noch ein viertes Blatt mit Kirchners farbiger Erprobung des Sujets erhalten hat. (Abb.) Ein Motiv, geführt über vier Stufen. Ein solches Geschehen nachzuverfolgen, gleichsam abschreiten zu können - dieser Glücksfall war und ist eher selten! Hier aber ereignet er sich und ebnet den Weg zum Gemälde und seinen noch einmal ganz eigenen, vor allem farbigen Gestaltungsmöglichkeiten. Kirchner wird sie ergreifen - und nutzen!
Dieses Gemälde muss ihm viel bedeutet haben: Es hing 1919 - wie zur Begrüßung - im 1. Geschoss des "Lärchenhauses" (Abb.), als ihn seine Lebensgefährtin Erna Schilling, von Berlin kommend, besuchte. Und vielleicht erinnert es an ihre erste Begegnung um die Jahreswende 1911/12 - in einem Varieté der pulsierenden Großstadt Berlin.
Prof. Dr. Dr. Gerd Presler
Zur Provenienz
Als Donald E. Gordon 1968 das erste Werkverzeichnis von Ernst Ludwig Kirchners Gemälden veröffentlicht, kennt er von "Tanz im Varieté" nicht mehr als jenes oben erwähnte Schwarz-Weiß-Foto von 1920. Die beeindruckenden Maße sind ihm nicht bekannt, und auch von den Fotos, die das Werk - ein seltener Glücksfall - "in situ" in Kirchners Atelier zeigen, weiß der Forscher nichts. Und der Standort? Unbekannt. "Location unknown". Erst 2024 gelangt das Werk wieder an die Öffentlichkeit. Wo aber war es im vergangenen Jahrhundert? Das handschriftliche Sammlungsinventar des vormaligen Eigentümers bringt den entscheidenden Hinweis für die Recherchen: "erworben durch Dr. Lili [sic] Fischel aus der Sammlung Gläser [sic], Eselsfürth Kaiserslautern im Jahr 1944".
Avantgarde in Kaiserslautern: die Sammlung Max Glaeser, Eselsfürth
Die Sammlung des Kommerzienrates Dr. Max Glaeser ist bekannt. Der erfolgreiche Emailfabrikant aus dem Kaiserslauterer Stadtteil Eselsfürth trägt bereits ab 1907 eine beeindruckende Sammlung zunächst deutscher, vorrangig Münchner Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammen. Lenbach und Stuck, Grützner und Thoma, Spitzweg und Liebermann finden sich hier, zunächst aber noch keine Expressionisten. Der erste Sammlungskatalog, 1922 vom Kunsthistoriker Hugo Kehrer verfasst, gibt eine ausführliche Würdigung (Hugo Kehrer, Sammlung Max Glaeser, Eselsfürth, München 1922). Als vier Jahre darauf eine nächste Sammlungsbeschreibung veröffentlicht wird, finden sich bereits Werke von Corinth und Kokoschka (dessen Großstadtbild "Madrid") in der Sammlung. Die Moderne hält Einzug (siehe: Edmund Hausen, Die Sammlung Glaeser, Eselsführt, in: Mitteilungsblatt des Pfälzischen Gewerbemuseums 1, 1926, S. 41-46).
1928/29 dann erbaut der Architekt Hans Herkommer im Bauhaus-Stil eine Villa für Max Glaeser in Eselsfürth, einem Ortsteil von Kaiserslautern. Das Wohnhaus für die Familie soll zugleich Ausstellungsort der großen Kunstsammlung sein. Fotos aus den Räumlichkeiten werden 1929/30 veröffentlicht und zeigen den geschmackvoll-avantgardistischen, noch heute in jedem Detail modern und zeitgemäß anmutenden Rahmen, in dem die Kunstwerke fortan präsentiert werden. Edvard Munch und Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff und Georg Kolbe, Karl Hofer und Max Pechstein zählen nun bereits zu den Koryphäen dieser bedeutenden Sammlung (siehe: Edmund Hausen und Hermann Graf, Haus und Sammlung Gläser, in: Hand und Maschine 1, 1929, S. 105-124, sowie Edmund Hausen, Die Sammlung Max Glaeser, Eselsfürth, in: Der Sammler, Nr. 2, 15.1.1930, S. 25f.). Und im Oktober 1930, nur Monate vor dem Tod des schwer herzkranken Fabrikanten, teilt Glaeser dem Kunsthändler Thannhauser mit, er wolle die Sammlung abgeben und nur noch moderne Künstler weiter ankaufen (Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels ZADIK, Köln, A 77, Nachlass Thannhauser, XIX 0063: Kundenkartei Glaeser).
Kirchner und Max Glaeser
Auch zwei Werke von Ernst Ludwig Kirchner werden um 1930/31 Teil der Sammlung Glaeser. Das eine ist lange bekannt: die "Frühlingslandschaft", die sich heute in der Pfalzgalerie in Kaiserslautern befindet. Das zweite Gemälde Kirchners in der Sammlung Glaeser sieht die Öffentlichkeit nun zum ersten Mal seit einem Jahrhundert: "Tanz im Varieté".
"Tanz im Varieté" geht sicher nach 1928, sehr wahrscheinlich sogar erst nach Januar 1930 in die Sammlung Glaeser ein. Bereits 1928 stattet der Sammler dem Künstler in Davos einen Besuch ab, offenbar angeregt durch seinen Berater, den bedeutenden Kunsthistoriker Gustav Hartlaub. Glaeser kauft nichts, und Kirchner äußert sich betont übellaunig über die Visite. Glaesers erster Ankauf eines Kirchner-Gemäldes wird die rund 70 x 90 Zentimeter große "Frühlingslandschaft". Sie ist im Januar 1930 auch in der letzten zeitgenössisch publizierten Sammlungsbeschreibung als "Landschaft mit Blütenbäumen" genannt - "Tanz im Varieté" ist hier jedoch noch nicht aufgeführt.
1935, vier Jahre nach dem Tod Glaesers, forciert die Witwe Anna an verschiedenen Stellen den Verkauf der Sammlung. Die Ursache dieser Verkäufe ist unklar, liegt aber nicht in der NS-Diktatur begründet. Die evangelische Familie Glaeser zählt nicht zu den Verfolgten des Regimes.
Anlässlich der zahlreichen Verkäufe von 1935 erinnert sich nun auch Kirchner wieder an den Besuch von 1928. Gegenüber Hagemann berichtet er, dass Glaeser bei seinem Aufenthalt in Davos zwar nichts erworben habe, jedoch später im Kunsthandel ein Bild "Artisten" gekauft habe, das er, Kirchner, aber nicht identifizieren könne: Glaeser "kaufte im Kunsthandel, nicht bei mir das Bild Artisten, von dem ich nicht weiss, was es ist". (19.11.1935, Kirchner an Hagemann, in: Hans Delfs (Hrsg.), Kirchner, Schmidt-Rottluff, Nolde, Nay ... Briefe an den Sammler und Mäzen Carl Hagemann 1906-1940, Ostfildern 2004, Brief 642, S. 502). Gemeint ist hier wohl: "Tanz im Varieté".
Warum aber entscheidet sich Max Glaeser gerade für dieses Bild, das in seinem Großformat, seiner Farbgebung und Motivwahl so besonders ist? Zumindest erwähnt sei hier eine Anekdote, wie sie aus der Familie des Sammlers mitgeteilt wird: Denn Max Glaeser, der beruflich viel reist, sieht in Paris einen Auftritt von Josefine Baker. Sogar auf der Bühne tanzt er mit ihr (die vormals noch von diesem Abend erhaltenen Fotografien sind jedoch verloren). Vielleicht ist es also auch die Erinnerung an einen besonderen Abend in Paris, die Max Glaesers Entscheidung für "Tanz im Varieté" begründet.
Im Nachlass Glaeser: 1931-1944
Als Max Glaeser im Mai 1931 verstirbt, befindet sich "Tanz im Varieté" in seinem Nachlass. Am 29. September desselben Jahres bietet sein Nachlassverwalter es der öffentlichen Kunstsammlung in Basel als "Varietészene" zum Kauf an. Im Frühjahr und Sommer 1932 befindet sich das Bild in Kommission der Galerie Buck in Mannheim, und erneut ist hier ein Schriftwechsel mit dem Baseler Museum überliefert. Trotz nun ernsthaften Interesses des Konservators an beiden Kirchner-Gemälden aus dem Nachlass Glaeser, die mit den durchaus beachtlichen Preisen von 2.800 Reichsmark für die "Frühlingslandschaft" und 5.500 Reichsmark für "Tanz im Varieté" vorgestellt werden, kommt ein Ankauf nicht zustande. Ebenso wenig mit dem Kunstmuseum Düsseldorf, dem das Gemälde gleichermaßen 1932 durch die Galerie Buck angeboten wird.
"Tanz im Varieté" bleibt im Eigentum der Witwe Anna Glaeser und ist hier schriftlich zuletzt in einem Sammlungsinventar aus dem Februar 1943 nachzuweisen. Fast genau ein Jahr nach dieser Sammlungsaufstellung verstirbt Anna Glaeser im Februar 1944. Die verbliebene Kollektion - zehn Gemälde hauptsächlich moderner Künstler wie Pechstein, Schmidt-Rottluff, Feininger und Heckel sowie zwei Plastiken von Kolbe - wird unter den Enkeln verteilt. "Tanz im Varieté" ist im Verteilungsplan enthalten, wird jedoch keinem Erben mehr zugewiesen, sondern mit einem Haken versehen - das Werk ist verkauft.
Verkauf und Rettung: 1944-2024
An dieser Stelle schließt die Überlieferung aus der Familie des damaligen Käufers an und kann die Geschichte von "Tanz im Varieté" vervollständigen.
Der neue Eigentümer ist ein Schmuckdesigner aus dem Badischen, Jahrgang 1905, der bereits in den frühen 1930er Jahren avantgardistischen Schmuck entwirft. Zu seinem der Moderne verschriebenen Künstler-Freundeskreis hält er auch in den Kriegsjahren so gut er kann Kontakt. Zu jenem gehört die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus der Kunsthalle Karlsruhe entlassene Lilli Fischel. In München untergetaucht, hält sie sich als freie Mitarbeiterin für die Galerie Günther Franke über Wasser. Lilli Fischel vermittelt 1944 den Ankauf von "Tanz im Varieté". Im März 1944 schreibt sie, vermutlich mit Bezug auf eben jenen Vorgang, an den Kunsthändler Ferdinand Möller: "Hätten Sie nicht vielleicht ein gutes Bild von Kirchner abzugeben, wie ich deren früher bei Ihnen sah? Ein Freund von mir, guter Kenner, wünscht sich eines" (Berlinische Galerie, Nachlass Ferdinand Möller, BG-GFMC,II 1,169).
Es ist kein Zufall, dass Lilli Fischel ihrem Freund ausgerechnet ein Gemälde aus dem Nachlass Glaeser vermittelt. Denn diese Sammlung kennt sie lange und gut: Max Glaeser versucht bereits 1930, gesundheitlich schon schwer angeschlagen, seine Bilder geschlossen an ein Museum zu vermitteln. Der Wunsch des Sammlers ist es, seine Kollektion auf diesem Wege für die Nachwelt zu erhalten. Auch mit Lilli Fischel, damals an der Kunsthalle Karlsruhe, steht er diesbezüglich in Kontakt. Am 20. Oktober 1930 notiert der Kunsthändler Thannhauser über ein Gespräch mit dem Sammler: "Frl. Fischel, vom Museum Karlsruhe hat ihm dafür 150 000 Mark geboten, dabei hätte sie sich doch das Recht vorbehalten, einiges zu verkaufen, da ihr nicht alles passt für ihr Museum. Er ist ziemlich ungehalten über sie, wegen dieses schlechten Gebots" (Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels ZADIK, Köln, A 77, Nachlass Thannhauser, XIX 0063: Kundenkartei Glaeser). So liegt es durchaus nahe, dass Lilli Fischel, auf der Suche nach einem passenden Kirchner-Gemälde für ihren Freund, die Erben der Sammlung Glaeser kontaktiert. Auf diesem Weg gelangt das Gemälde in den Besitz des Schmuckdesigners. Er zeigt sich früh begeistert von den avantgardistischen Kunstströmungen, etwa vom Expressionismus und der Kunst des Bauhauses. Seine Ausbildung absolviert er 1923-1927 zeitgleich mit Alexander Calder an der Art Students League in New York, anschließend verbringt er ein Jahr in Paris zur Vertiefung seiner Studien.
Im Jahr 1944 jedoch ist der Ankauf eines solchen Kunstwerkes mit Schwierigkeiten verbunden. Wohin nun mit dem großformatigen Werk eines "Entarteten", wie kann es mitten im Zweiten Weltkrieg vor Bomben und den nationalsozialistischen Behörden geschützt werden? In einem Bauernhof auf dem Land hält man das Gemälde für sicher. In einer Kiste, gut verpackt, wird es dort versteckt. Doch 1945 nehmen französische Truppen das Dorf ein. Die Kiste wird gefunden und gewaltsam geöffnet, der Schmuckrahmen des Werkes wird zerstört, die Leinwand durch einen Schuss und einen Bajonettstich beschädigt. Die Kugel trifft den Kopf einer Tänzerin links im Bild und der Rumpf des Tänzers wird durchstochen. Die Soldaten aber lassen die Kiste mit dem Gemälde geöffnet zurück. So kann ein hochbedeutendes Stück deutscher Kunstgeschichte gerettet werden. Nach dem Krieg wird das Gemälde, erneut vermittelt durch Lilli Fischel, in der Kunsthalle Karlsruhe durch Verena Baier fachmännisch restauriert. Die Kriegsbeschädigung der Leinwand ist heute insbesondere von der Rückseite erkennbar. Hier, in der Rückansicht, wird Geschichte physisch greifbar. Bis heute befindet sich "Tanz im Varieté" in der Familie des Käufers von 1944. 1980, anlässlich seines 75. Geburtstages, schenkt der Sammler das Gemälde seinen beiden Kindern. Mit diesem Geschenk gibt er ihnen aber auch eine Aufgabe an die Hand: die Rückführung des Gemäldes in die Öffentlichkeit, für die auch der Künstler selbst es vorgesehen hatte. Dieses besondere Vermächtnis eines besonderen Sammlers ermöglicht es uns, heute dieses Kunstwerk wiederzuentdecken. Mehr als 100 Jahre sind seit der letzten Publikation des Bildes vergangen. Nun ist es zurück. "Tanz im Varieté" kann seinen vorgesehenen Platz in der Kunstgeschichte einnehmen.
Dr. Agnes Thum
Seit 100 Jahren gilt das Bild als verschollen. Sein Wiederauftauchen ist eine Sensation.
Das Gemälde "Tanz im Varieté" hat nahezu 100 Jahre buchstäblich im Hintergrund der Kunstgeschichte auf seinen Auftritt gewartet. Kirchner hat das Bild mehrfach fotografiert. Die erste Aufnahme dokumentiert eine Ausstellung der "Brücke"-Maler im Frühjahr 1912 im Berliner Kunstsalon des Galeristen Fritz Gurlitt (Abb.). Die Kamera leitet den Blick durch ein monumentales Holzportal, rechts flankiert von einer Holzfigur Kirchners, und steuert auf die prominent platzierte, großformatige Varietészene auf der Rückwand des Saals zu. Eine spätere Fotografie zeigt eine ausgelassene Szene im Haus "In den Lärchen" in Davos (Abb.). Ein tanzendes Bauernpaar, links der Maler, wie teilnahmslos, hinter ihm zu sehen das Gemälde "Tanz im Varieté", ungerahmt, nachlässig an die Wand gepinnt, halb verdeckt von einem abgestellten Liegestuhl. Das Foto mit Selbstporträt stammt von 1919. Auf Wunsch des Kunstkritikers Karl Scheffler hat Kirchner 1920 eine fotografische Reproduktion angefertigt; sie wird zusammen mit Schefflers Aufsatz über Kirchners nervöse, hochintuitive Arbeitsweise in der Zeitschrift "Kunst und Künstler" veröffentlicht. Zum letzten Mal ausgestellt wird "Tanz im Varieté" Ende 1923 bei Paul Cassirer in Berlin. Danach verlieren sich seine Spuren. Das Bild verschwindet aus der Öffentlichkeit. Seit 100 Jahren gilt es als verschollen. Sein Wiederauftauchen ist eine echte Sensation.
Die Moderne kommt auf der Bühne und auf der Straße zur Welt.
Was sehen wir? Kirchner schildert uns, was in den Metropolen Europas ab 1900 den Nerv der Zeit trifft und auf den Tanzflächen einen regelrechten Hype auslöst. Vorn, im Scheinwerferkegel, sehen wir eine Cakewalk-Szene zwischen einem Schwarzen Tänzer und einer weißen Tänzerin, eingefasst von einer Gruppe weiterer Tänzerinnen und Tänzer. Die Umrisslinien der Körper füllt Kirchner mit farbigen Flächen. Eine konzentrierte Farbskala aus Rot- und Rosétönen dominiert. Der Kontrast zwischen dunkler und heller Haut ist deutlich markiert. Im Hintergrund ist eine Varieté-Kulisse zu erkennen. Pastellgrüne Ornamente einer Balustrade und eine Palmenreihe deuten einen Wintergarten an. Tanz im Varieté ist eine Hommage an das goldene Zeitalter der Unterhaltungskünstler, die vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren Showtänzen das Publikum in Ekstase versetzen. Das Gemälde zählt zu den letzten Werken, die in Dresden zum Motivkreis Zirkus und Varieté entstehen, bevor Ernst Ludwig Kirchner sich in Berlin dem Theater der Straße zuwendet. Das Werk ist von raumgreifendem Charisma. Es gehört zu einer Handvoll großer Formate, mit denen Kirchner innerhalb des "Brücke"-Kreises als Ausnahmekünstler herausragt.
Die Moderne kommt auf der Bühne und auf der Straße zur Welt. Die Kombination von Würde und Eleganz, das Raffinement der Mode und die Exzentrik neuer Tanzformen verleihen den Menschen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Aura des Erfolgs und der Unnahbarkeit. Das Flair des Kosmopolitischen und die mondäne Kälte hat kaum jemand so differenziert wahrgenommen wie Ernst Ludwig Kirchner. Er konnte mit unbeweglichen Akademieakten oder starren Ballettposen nichts anfangen und suchte nach Inspiration im Zusammenleben mit Menschen. Auf den Straßen und Plätzen der Metropolen, in den Varietés und Music Halls werden neue Körperbilder, Rollen und Bewegungskulturen eingeübt. Zeichnend und malend setzt Kirchner die gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen in Szene. Seine Bilder sind Gegenwartsbeschreibungen. Sie sensibilisieren geradezu modellhaft für die soziale Schieflage seiner Figuren. Kirchner lässt sie darstellen, wie aussichtslos die Glücksversprechungen einer Gesellschaft sind, in der an den Körpern schon die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ablesbar ist.
Man muss sich die Theater zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie eine pulsierende Unterhaltungsmaschinerie vorstellen, eine Art Totaltheater für eine Massengesellschaft auf der Suche nach unheiligen Wundern. Das Publikum des Deutschen Kaiserreichs lechzt nach Sensationen, nach Showgrößen von internationalem Ruf. In Dresden gehören in diesen Jahren das Central-Theater, das Flora-Varieté mit seiner Sommerbühne im Garten des Hotel Hammer (Abb.) und der Circus Albert Schumann zu den ersten Adressen für Akrobatik mit viel Körpereinsatz, Zaubertricks und Glamour. Sarah Bernhardt, Harry Houdini und Eleonora Duse kommen nach Dresden. Ensembles aus Indien, China und den USA treten in den Tanzgaststätten auf. Die Welt ist hier zu Gast. Die berühmte Zeile aus André Hellers Album "Nr.1" kommt einem hier in den Sinn: "Überall tragen die Menschen einen Zirkus unter dem Herzen, mit richtigen Seiltänzern ?". Bei Kirchner und seinem Malerfreund Erich Heckel muss der Platz unter dem Herzen mächtig groß wie eine Manege gewesen sein. Sie zeichnen, malen und drucken zwischen 1908 und 1914 hunderte von Blättern mit Motiven aus Zirkus, Tingeltangel und Varieté.
Der Cakewalk
Zu den populärsten Tanzformen gehört in diesen Jahren der Cakewalk, dessen Wurzeln sich bis in die Sklavenzeit zurückverfolgen lassen. Ursprünglich waren es Afroamerikaner, die in Tanzwettbewerben die Tänze der weißen Herrschaft lächerlich machten. Das Siegerpaar bekam einen Kuchen als Preis, daher der Name: Cakewalk - Kuchenpromenade. Von den Plantagenfesten migriert der Tanz auf die Bühnen der Nordstaaten, wo ihn Weiße in der Maske des Blackface übernehmen. Um die Jahrhundertwende finden dann immer mehr afroamerikanische Künstlerinnen und Künstler Zugang zu den Theaterbühnen. Sie touren durch Europa und fordern in eleganter Abendgarderobe und mit freizügigen Ragtime-Rhythmen die Gesellschaftstänze des bürgerlich-aristokratischen Parketts heraus. Die Illustrierte "Elegante Welt" widmet diesem Zeitgeist eine eigene "Ball-Nummer" und beobachtet, dass sich die Tanzformen der guten Gesellschaft von denen der Demimonde tatsächlich kaum mehr unterscheiden lassen (K. O. Ebner, Von der Quadrille zum "Turkey trot", in: Elegante Welt, 1912, Heft 8, S. 16). Schritt-für-Schritt-Anleitungen und Tanzschulen demokratisieren den Modetanz. Jeder kann ihn erlernen. Er wird wie eine Promenade in offener Paarhaltung getanzt, individuell und nicht nach Schema. Ein Tanz für alle, diesseits und jenseits der Colorlines.
Auch in Deutschland beginnt die Durchmischung der Kulturen auf den Tanzflächen. Der Südstaatentanz wird hier zu einem beliebten Importgut aus den USA. Im Oktober 1901 treffen das Tanzpaar Dora Dean und Charles Johnson aus New York in Berlin ein und treten auf der Bühne des Wintergarten-Theaters in der Friedrichstraße auf. Die Lousiana Amazon Guards geben im Dezember im Circus Schumann ihre erste Show in Deutschland (vgl. Rainer E. Lotz, The "Lousiana Troupes" in Europe, in: The Black Perspective in Music, Autumn, 1983, Vol. 11, No. 2, S. 135). Die Barfußtänzerin Mildred Howard de Grey tanzt 1903 in einer Zugabe die erste Cakewalk-Szene in Dresden (vgl. Dresdner Neueste Nachrichten, 18.7.1903). In Berlin werden die frivolen Auftritte der Danseusen und der weltmännische Chic Schwarzer Figuren in Frack und Zylinder ein Stereotyp mit mehreren second level messages: ihre "echte" Schwarze Hautfarbe steht für ein Authentizitätsversprechen, für eine ekstatische, spontane Lebensführung und eine Mischung aus Unterordnung und Selbstbehauptung. Der polemische Gestus des Tanzes bleibt als Subtext erhalten, etwa indem die Cakewalk-Tänzer die aufrechte Haltung des klassischen Tanzes in die Schieflage bringen, dazu frivoles Beckenkreisen, schlackernde Knie und blitzschnelle, taktklopfende Fußbewegungen. "Der Cakewalk", schreibt die Historikerin Astrid Kusser, "markiert den Einbruch schwarzer Kultur in Europa" (Astrid Kusser, Arbeitsfreude und Tanzwut im (Post)-Fordismus, in: Body Politics 1 (2023), Heft 1, S.47).
Die Entstehung Schwarzer Modetänze kreuzte sich mit einem andern Zeitphänomen, der Verbreitung unterhaltsamer Bildpostkarten und satirischer Werbegrafiken. Afroamerikanische Motive zirkulieren zwischen Europa und den USA, sie sind Teil alltäglicher Kommunikation, nicht selten mit rassistischen oder sexistischen Zwischentönen. Zu den beliebtesten Motiven zählen Tanzszenen. Der tanzende Schwarze Dandy - wie Kirchner ihn hier prominent in Szene setzt - gehört zu den Prime Movers des Modern Dance. Mit seinen selbstbewussten Ansprüchen auf Glück und Sichtbarkeit werden die Ausdrucksformen der Schwarzen Diaspora neu verhandelbar. Durch die Tore, die diese Grenzgänger aufgestoßen haben, bricht der Tanz ins 20. Jahrhundert auf.
Kirchners Expressionismus: ein Patchwork der Kulturen
Wie der neue deutsche Tanz ist auch der Expressionismus der "Brücke"-Maler ein Patchwork der Kulturen im Schatten eines spätautokratischen Regimes. Kirchner, ein äußerst akribischer Chronist seines Schaffens, hat seine Prozesse der Aneignung selbst dokumentiert. Sein Foto-Archiv, die Tagebücher, Briefe und Skizzenbücher sind eine geradezu vorbildliche Spurensicherung, die es ermöglicht, die Provenienz jeder Geste, jedes Motivs, jeder Form ziemlich genau zu rekonstruieren. Eine Serie von Vorstufen, verwandter Motive und Zeichnungen ergeben Querverbindungen zu anderen Gemälden und Künstlern. Besonders seine enge Freundschaft zu Erich Heckel gibt eine Reihe von Hinweisen auf den Entstehungskontext, das Sujet und den Schauplatz des Varieté-Gemäldes. Natur, Körper und Bewegung - das sind in diesen Jahren die bestimmenden Themen der Malerfreunde. Als im Vorfeld der großen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden ein Plakatwettbewerb ausgerufen wird, bewerben sich die beiden mit dem gemeinsamen Entwurf eines Bogenschützen-Motivs. Ausgezeichnet wird zwar ein anderer Entwurf, aber Kirchners und Heckels Plakatvorschlag erhält eine lobende Erwähnung (vgl. Bernd Hünlich, Heckels und Kirchners verschollene Plakatentwürfe für die Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911, in: Dresdener Kunstblätter, 1984, Heft 28, S. 145-151). Kirchners Lithografie "Cake Walk" (Abb.) und das Aquarell "Tanzszene (Stepptanz)" (Abb.) - beide Blätter lassen sich ganz offensichtlich als Vorstufen zu "Tanz im Varieté" einordnen - sind formal und motivisch der Lithografie "Tänzerinnen" (Abb.) von Heckel so ähnlich, dass man sicher vermuten darf, dass die beiden Maler im Sommer 1911 in Dresden denselben Tanzabend besucht haben.
Häufig zeigt sich, dass Kirchners Bilder eigentlich farbige Umformungen seiner stenogrammartigen Zeichnungen sind. Das gilt ganz besonders für seine Tanzmotive. Gut möglich, dass er für die Ausarbeitung seines Skizzenmaterials zu einem Gemälde seine eigenen Seherfahrungen mit Bildern aus zweiter Hand, aus Zeitschriften oder von Werbe- und Witzpostkarten, verstärkt hat. Ob das im Falle des Varietétanzes noch in Dresden passiert ist oder aber bereits in Berlin, wohin er im Oktober 1911 sein Atelier verlegt, das lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Interessant ist hier das ästhetische Verfahren.
Die Moderne wäre nicht vorstellbar ohne das Spiel von Aneignung, Zitat und Collage. Auch die Intensität der expressionistischen Malerei ist eng verbunden mit der Fähigkeit, Gleiches und Ungleiches zusammenzuführen. Das Durchmischte und Hybride gehört geradezu zum Gestaltungskern der Künstlergruppe am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Das Gemälde "Tanz im Varieté" führt uns an ein Moment der Moderne, ab dem sich Dinge zu verändern beginnen: Gesten, Geschlechterverhältnisse, Herrschaftsformen, das Verhältnis zu unserem Körper und zu anderen Kulturen.
Ein Werk wie das von Ernst Ludwig Kirchner sensibilisiert geradezu modellhaft für den loopartigen Austausch von bis dahin ungekannten, abstrakten Formen zwischen Europa, Afrika und den USA, die sich - zunehmend untrennbar - zu verweben und zu verflechten beginnen. Kirchners Blick für kinetisch überbegabte Temperamente führt uns über die Geschichte des Tanzes vor Augen, wie neue Expressionismen in der Kunst aus Begegnungen und Beziehungen zwischen den Kulturen entstehen.
Oft sehen wir Menschen oder Dinge, die lange unserem Blick entzogen waren, neu, klarer, vielschichtiger. So stellt auch dieses Gemälde "Tanz im Varieté" nochmal die ganz großen Fragen: nach Sehnsucht, Schönheit, Respekt und nach dem Zusammenleben in Gemeinschaften. Es spricht davon auf ganz gegenwärtige Weise, temperamentvoll und zärtlich zugleich.
Marietta Piekenbrock
Skizze - Zeichnung - Ölgemälde
Stationen auf dem Weg zur Vollendung
Diese Situation hat Ernst Ludwig Kirchner geliebt - und ein Leben lang immer wieder aufgesucht: der Mensch in Bewegung, sei es in freier Natur, am Meer, im Atelier, unter der Zirkuskuppel, im Theater, Kabarett, oder, wie hier, auf der Bühne eines Varietés, eingehüllt in das wirbelnde Staccato des Stepptanzes und die eingängigen Rhythmen des Cakewalk. Von dem, was er sah und erlebte, bis zu dem, was er in "heiligen Zeichen" (Hieroglyphen) niederschrieb, war der Weg nicht lang. So auch hier. Ein Varietébesuch - und da war er, der Augenblick, in dem alles zusammenkam, in dem sich alles entschied.
Ohne jedes Zögern zieht Kirchner sein Skizzenbuch hervor, füllt "in der Ekstase des ersten Sehens" ein erstes Blatt mit schnell und sicher hingeworfenen Linien: die Tänzerin in einem weit schwingenden Kostüm, den Schritt abgestimmt auf ihren Tanzpartner, der, in Frack und Zylinder, das wirbelnde Geschehen vorantreibt. (Abb.)
Und dann sogleich das nächste Blatt mit abgerundeten Ecken und Rotschnitt: Kirchner hat seinen Platz gewechselt, blickt zwischen einem vor ihm sitzenden Paar hindurch auf die Bühne. Die Tänzerin zeigt nun als Blickfang eine große Blume im unteren Teil ihres Kostüms. Und der Tänzer trägt, hochelegant, einen langen, bis in die Kniekehlen reichenden "Schwalbenschwanz". (Abb.)
Später am Abend, vermutlich nach Rückkehr in die Stille des Ateliers, brodelt es immer noch heftig im Künstler: Auf einem größeren Blatt (26 x 36 cm) verdichtet er die Szene. Das gesamte Ensemble mit drei weiteren Tänzerinnen und einem Tänzer tritt auf. (Abb.) Wunderbar, dass sich dann noch ein viertes Blatt mit Kirchners farbiger Erprobung des Sujets erhalten hat. (Abb.) Ein Motiv, geführt über vier Stufen. Ein solches Geschehen nachzuverfolgen, gleichsam abschreiten zu können - dieser Glücksfall war und ist eher selten! Hier aber ereignet er sich und ebnet den Weg zum Gemälde und seinen noch einmal ganz eigenen, vor allem farbigen Gestaltungsmöglichkeiten. Kirchner wird sie ergreifen - und nutzen!
Dieses Gemälde muss ihm viel bedeutet haben: Es hing 1919 - wie zur Begrüßung - im 1. Geschoss des "Lärchenhauses" (Abb.), als ihn seine Lebensgefährtin Erna Schilling, von Berlin kommend, besuchte. Und vielleicht erinnert es an ihre erste Begegnung um die Jahreswende 1911/12 - in einem Varieté der pulsierenden Großstadt Berlin.
Prof. Dr. Dr. Gerd Presler
Zur Provenienz
Als Donald E. Gordon 1968 das erste Werkverzeichnis von Ernst Ludwig Kirchners Gemälden veröffentlicht, kennt er von "Tanz im Varieté" nicht mehr als jenes oben erwähnte Schwarz-Weiß-Foto von 1920. Die beeindruckenden Maße sind ihm nicht bekannt, und auch von den Fotos, die das Werk - ein seltener Glücksfall - "in situ" in Kirchners Atelier zeigen, weiß der Forscher nichts. Und der Standort? Unbekannt. "Location unknown". Erst 2024 gelangt das Werk wieder an die Öffentlichkeit. Wo aber war es im vergangenen Jahrhundert? Das handschriftliche Sammlungsinventar des vormaligen Eigentümers bringt den entscheidenden Hinweis für die Recherchen: "erworben durch Dr. Lili [sic] Fischel aus der Sammlung Gläser [sic], Eselsfürth Kaiserslautern im Jahr 1944".
Avantgarde in Kaiserslautern: die Sammlung Max Glaeser, Eselsfürth
Die Sammlung des Kommerzienrates Dr. Max Glaeser ist bekannt. Der erfolgreiche Emailfabrikant aus dem Kaiserslauterer Stadtteil Eselsfürth trägt bereits ab 1907 eine beeindruckende Sammlung zunächst deutscher, vorrangig Münchner Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammen. Lenbach und Stuck, Grützner und Thoma, Spitzweg und Liebermann finden sich hier, zunächst aber noch keine Expressionisten. Der erste Sammlungskatalog, 1922 vom Kunsthistoriker Hugo Kehrer verfasst, gibt eine ausführliche Würdigung (Hugo Kehrer, Sammlung Max Glaeser, Eselsfürth, München 1922). Als vier Jahre darauf eine nächste Sammlungsbeschreibung veröffentlicht wird, finden sich bereits Werke von Corinth und Kokoschka (dessen Großstadtbild "Madrid") in der Sammlung. Die Moderne hält Einzug (siehe: Edmund Hausen, Die Sammlung Glaeser, Eselsführt, in: Mitteilungsblatt des Pfälzischen Gewerbemuseums 1, 1926, S. 41-46).
1928/29 dann erbaut der Architekt Hans Herkommer im Bauhaus-Stil eine Villa für Max Glaeser in Eselsfürth, einem Ortsteil von Kaiserslautern. Das Wohnhaus für die Familie soll zugleich Ausstellungsort der großen Kunstsammlung sein. Fotos aus den Räumlichkeiten werden 1929/30 veröffentlicht und zeigen den geschmackvoll-avantgardistischen, noch heute in jedem Detail modern und zeitgemäß anmutenden Rahmen, in dem die Kunstwerke fortan präsentiert werden. Edvard Munch und Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff und Georg Kolbe, Karl Hofer und Max Pechstein zählen nun bereits zu den Koryphäen dieser bedeutenden Sammlung (siehe: Edmund Hausen und Hermann Graf, Haus und Sammlung Gläser, in: Hand und Maschine 1, 1929, S. 105-124, sowie Edmund Hausen, Die Sammlung Max Glaeser, Eselsfürth, in: Der Sammler, Nr. 2, 15.1.1930, S. 25f.). Und im Oktober 1930, nur Monate vor dem Tod des schwer herzkranken Fabrikanten, teilt Glaeser dem Kunsthändler Thannhauser mit, er wolle die Sammlung abgeben und nur noch moderne Künstler weiter ankaufen (Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels ZADIK, Köln, A 77, Nachlass Thannhauser, XIX 0063: Kundenkartei Glaeser).
Kirchner und Max Glaeser
Auch zwei Werke von Ernst Ludwig Kirchner werden um 1930/31 Teil der Sammlung Glaeser. Das eine ist lange bekannt: die "Frühlingslandschaft", die sich heute in der Pfalzgalerie in Kaiserslautern befindet. Das zweite Gemälde Kirchners in der Sammlung Glaeser sieht die Öffentlichkeit nun zum ersten Mal seit einem Jahrhundert: "Tanz im Varieté".
"Tanz im Varieté" geht sicher nach 1928, sehr wahrscheinlich sogar erst nach Januar 1930 in die Sammlung Glaeser ein. Bereits 1928 stattet der Sammler dem Künstler in Davos einen Besuch ab, offenbar angeregt durch seinen Berater, den bedeutenden Kunsthistoriker Gustav Hartlaub. Glaeser kauft nichts, und Kirchner äußert sich betont übellaunig über die Visite. Glaesers erster Ankauf eines Kirchner-Gemäldes wird die rund 70 x 90 Zentimeter große "Frühlingslandschaft". Sie ist im Januar 1930 auch in der letzten zeitgenössisch publizierten Sammlungsbeschreibung als "Landschaft mit Blütenbäumen" genannt - "Tanz im Varieté" ist hier jedoch noch nicht aufgeführt.
1935, vier Jahre nach dem Tod Glaesers, forciert die Witwe Anna an verschiedenen Stellen den Verkauf der Sammlung. Die Ursache dieser Verkäufe ist unklar, liegt aber nicht in der NS-Diktatur begründet. Die evangelische Familie Glaeser zählt nicht zu den Verfolgten des Regimes.
Anlässlich der zahlreichen Verkäufe von 1935 erinnert sich nun auch Kirchner wieder an den Besuch von 1928. Gegenüber Hagemann berichtet er, dass Glaeser bei seinem Aufenthalt in Davos zwar nichts erworben habe, jedoch später im Kunsthandel ein Bild "Artisten" gekauft habe, das er, Kirchner, aber nicht identifizieren könne: Glaeser "kaufte im Kunsthandel, nicht bei mir das Bild Artisten, von dem ich nicht weiss, was es ist". (19.11.1935, Kirchner an Hagemann, in: Hans Delfs (Hrsg.), Kirchner, Schmidt-Rottluff, Nolde, Nay ... Briefe an den Sammler und Mäzen Carl Hagemann 1906-1940, Ostfildern 2004, Brief 642, S. 502). Gemeint ist hier wohl: "Tanz im Varieté".
Warum aber entscheidet sich Max Glaeser gerade für dieses Bild, das in seinem Großformat, seiner Farbgebung und Motivwahl so besonders ist? Zumindest erwähnt sei hier eine Anekdote, wie sie aus der Familie des Sammlers mitgeteilt wird: Denn Max Glaeser, der beruflich viel reist, sieht in Paris einen Auftritt von Josefine Baker. Sogar auf der Bühne tanzt er mit ihr (die vormals noch von diesem Abend erhaltenen Fotografien sind jedoch verloren). Vielleicht ist es also auch die Erinnerung an einen besonderen Abend in Paris, die Max Glaesers Entscheidung für "Tanz im Varieté" begründet.
Im Nachlass Glaeser: 1931-1944
Als Max Glaeser im Mai 1931 verstirbt, befindet sich "Tanz im Varieté" in seinem Nachlass. Am 29. September desselben Jahres bietet sein Nachlassverwalter es der öffentlichen Kunstsammlung in Basel als "Varietészene" zum Kauf an. Im Frühjahr und Sommer 1932 befindet sich das Bild in Kommission der Galerie Buck in Mannheim, und erneut ist hier ein Schriftwechsel mit dem Baseler Museum überliefert. Trotz nun ernsthaften Interesses des Konservators an beiden Kirchner-Gemälden aus dem Nachlass Glaeser, die mit den durchaus beachtlichen Preisen von 2.800 Reichsmark für die "Frühlingslandschaft" und 5.500 Reichsmark für "Tanz im Varieté" vorgestellt werden, kommt ein Ankauf nicht zustande. Ebenso wenig mit dem Kunstmuseum Düsseldorf, dem das Gemälde gleichermaßen 1932 durch die Galerie Buck angeboten wird.
"Tanz im Varieté" bleibt im Eigentum der Witwe Anna Glaeser und ist hier schriftlich zuletzt in einem Sammlungsinventar aus dem Februar 1943 nachzuweisen. Fast genau ein Jahr nach dieser Sammlungsaufstellung verstirbt Anna Glaeser im Februar 1944. Die verbliebene Kollektion - zehn Gemälde hauptsächlich moderner Künstler wie Pechstein, Schmidt-Rottluff, Feininger und Heckel sowie zwei Plastiken von Kolbe - wird unter den Enkeln verteilt. "Tanz im Varieté" ist im Verteilungsplan enthalten, wird jedoch keinem Erben mehr zugewiesen, sondern mit einem Haken versehen - das Werk ist verkauft.
Verkauf und Rettung: 1944-2024
An dieser Stelle schließt die Überlieferung aus der Familie des damaligen Käufers an und kann die Geschichte von "Tanz im Varieté" vervollständigen.
Der neue Eigentümer ist ein Schmuckdesigner aus dem Badischen, Jahrgang 1905, der bereits in den frühen 1930er Jahren avantgardistischen Schmuck entwirft. Zu seinem der Moderne verschriebenen Künstler-Freundeskreis hält er auch in den Kriegsjahren so gut er kann Kontakt. Zu jenem gehört die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus der Kunsthalle Karlsruhe entlassene Lilli Fischel. In München untergetaucht, hält sie sich als freie Mitarbeiterin für die Galerie Günther Franke über Wasser. Lilli Fischel vermittelt 1944 den Ankauf von "Tanz im Varieté". Im März 1944 schreibt sie, vermutlich mit Bezug auf eben jenen Vorgang, an den Kunsthändler Ferdinand Möller: "Hätten Sie nicht vielleicht ein gutes Bild von Kirchner abzugeben, wie ich deren früher bei Ihnen sah? Ein Freund von mir, guter Kenner, wünscht sich eines" (Berlinische Galerie, Nachlass Ferdinand Möller, BG-GFMC,II 1,169).
Es ist kein Zufall, dass Lilli Fischel ihrem Freund ausgerechnet ein Gemälde aus dem Nachlass Glaeser vermittelt. Denn diese Sammlung kennt sie lange und gut: Max Glaeser versucht bereits 1930, gesundheitlich schon schwer angeschlagen, seine Bilder geschlossen an ein Museum zu vermitteln. Der Wunsch des Sammlers ist es, seine Kollektion auf diesem Wege für die Nachwelt zu erhalten. Auch mit Lilli Fischel, damals an der Kunsthalle Karlsruhe, steht er diesbezüglich in Kontakt. Am 20. Oktober 1930 notiert der Kunsthändler Thannhauser über ein Gespräch mit dem Sammler: "Frl. Fischel, vom Museum Karlsruhe hat ihm dafür 150 000 Mark geboten, dabei hätte sie sich doch das Recht vorbehalten, einiges zu verkaufen, da ihr nicht alles passt für ihr Museum. Er ist ziemlich ungehalten über sie, wegen dieses schlechten Gebots" (Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels ZADIK, Köln, A 77, Nachlass Thannhauser, XIX 0063: Kundenkartei Glaeser). So liegt es durchaus nahe, dass Lilli Fischel, auf der Suche nach einem passenden Kirchner-Gemälde für ihren Freund, die Erben der Sammlung Glaeser kontaktiert. Auf diesem Weg gelangt das Gemälde in den Besitz des Schmuckdesigners. Er zeigt sich früh begeistert von den avantgardistischen Kunstströmungen, etwa vom Expressionismus und der Kunst des Bauhauses. Seine Ausbildung absolviert er 1923-1927 zeitgleich mit Alexander Calder an der Art Students League in New York, anschließend verbringt er ein Jahr in Paris zur Vertiefung seiner Studien.
Im Jahr 1944 jedoch ist der Ankauf eines solchen Kunstwerkes mit Schwierigkeiten verbunden. Wohin nun mit dem großformatigen Werk eines "Entarteten", wie kann es mitten im Zweiten Weltkrieg vor Bomben und den nationalsozialistischen Behörden geschützt werden? In einem Bauernhof auf dem Land hält man das Gemälde für sicher. In einer Kiste, gut verpackt, wird es dort versteckt. Doch 1945 nehmen französische Truppen das Dorf ein. Die Kiste wird gefunden und gewaltsam geöffnet, der Schmuckrahmen des Werkes wird zerstört, die Leinwand durch einen Schuss und einen Bajonettstich beschädigt. Die Kugel trifft den Kopf einer Tänzerin links im Bild und der Rumpf des Tänzers wird durchstochen. Die Soldaten aber lassen die Kiste mit dem Gemälde geöffnet zurück. So kann ein hochbedeutendes Stück deutscher Kunstgeschichte gerettet werden. Nach dem Krieg wird das Gemälde, erneut vermittelt durch Lilli Fischel, in der Kunsthalle Karlsruhe durch Verena Baier fachmännisch restauriert. Die Kriegsbeschädigung der Leinwand ist heute insbesondere von der Rückseite erkennbar. Hier, in der Rückansicht, wird Geschichte physisch greifbar. Bis heute befindet sich "Tanz im Varieté" in der Familie des Käufers von 1944. 1980, anlässlich seines 75. Geburtstages, schenkt der Sammler das Gemälde seinen beiden Kindern. Mit diesem Geschenk gibt er ihnen aber auch eine Aufgabe an die Hand: die Rückführung des Gemäldes in die Öffentlichkeit, für die auch der Künstler selbst es vorgesehen hatte. Dieses besondere Vermächtnis eines besonderen Sammlers ermöglicht es uns, heute dieses Kunstwerk wiederzuentdecken. Mehr als 100 Jahre sind seit der letzten Publikation des Bildes vergangen. Nun ist es zurück. "Tanz im Varieté" kann seinen vorgesehenen Platz in der Kunstgeschichte einnehmen.
Dr. Agnes Thum
19
Ernst Ludwig Kirchner
Tanz im Varieté, 1911.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 2.000.000 Ergebnis:
€ 6.958.000 (inklusive Aufgeld)
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