Auktion: 550 / Evening Sale am 07.06.2024 in München Lot 22

 

22
Ernst Ludwig Kirchner
Fehmarnlandschaft, 1913.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 300.000
Ergebnis:
€ 330.200

(inklusive Aufgeld)
Fehmarnlandschaft. 1913.
Öl auf Leinwand.
Links unten signiert und datiert. 72 x 60,5 cm (28,3 x 23,8 in).
Das Werk ist im Photoalbum des Künstlers enthalten (Fotografien außerhalb der Alben I-IV).
Weitere Werke aus der Sammlung Dr. Maier-Mohr werden in unserem Contemporary Art Day Sale am Freitag, 7. Juni 2024, und in unserem Modern Art Day Sale am Samstag, 8. Juni 2024 angeboten – siehe Sonderkatalog „Eine private Sammlung – Dr. Theo Maier-Mohr”.

• Auf Fehmarn schafft Kirchner in den Sommern 1912–1914 nach eigener Aussage Werke "von absoluter Reife".
• Die Kraft der ungebändigten Natur führt Kirchner zu einer unmittelbaren und dynamischen Malerei.
• Radikale Überwindung aller Konventionen und Sehgewohnheiten: zoomartig ins Format gesetzte Vogelperspektive.
• Freie Formen in expressivem Duktus der Berliner Jahre.
• Fehmarn-Darstellungen des Künstlers befinden sich u. a. in der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, im Folkwang Museum in Essen, im Städel Museum in Frankfurt a. Main, in der Hamburger Kunsthalle, im Carnegie Museum of Art in Pittsburgh und im Detroit Institute of Arts
.

Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ: Sammlung Dr. phil. Friedrich Isernhagen, Leverkusen/Köln (1918).
Frankfurter Kunstkabinett Hanna Bekker vom Rath (1964).
Brook Street Gallery, London (1965).
Galerie Roman Norbert Ketterer, Campione d'Italia (1966).
Privatsammlung Schweiz.
Galerie Utermann, Dortmund.
Galerie Thomas, München.
Sammlung Dr. Theo Maier-Mohr (1985 vom Vorgenannten erworben).
Seitdem in Familienbesitz.

AUSSTELLUNG: Espressionismo Tedesco, Galleria La Nuova Loggia, Bologna 1966 (dat. "1912", m. SW-Abb.).
Arbeiten von E. L. Kirchner, Galerie Utermann, Dortmund, Herbst 1985, Kat.-Nr. 1 (m. Farbabb.).

LITERATUR: Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner, München/Cambridge (MA) 1968, S. 93 u. 321, WVZ-Nr. 329 (m. SW-Abb.).
- -
Frankfurter Kunstkabinett, Frankfurt a. Main, Katalog Nr. 8, 1964, Kat.-Nr. 131 (m. Farbabb. auf d. Umschlag).
Galerie Roman Norbert Ketterer, Campione d'Italia, Moderne Kunst III, Stuttgart-Bad Canstatt 1966, S. 86, Kat.-Nr. 75 (m. d. Titel "Fehmarnküste m. Möwe" u. dat. "1912", m. ganzs. Farbabb., S. 86).
Kunsthaus Lempertz, Köln, 528. Auktion, Kunst des XX. Jahrhunderts, 24.11.1972, S. 83, Los 476 (m. SW-Abb., Tafel 6).
Hans Delfs, Mario-Andreas von Lüttichau u. Roland Scotti, Kirchner, Schmidt-Rottluff, Nolde, Nay .. Briefe an den Sammler und Mäzen Carl Hagemann, Ostfildern 2004, Nr. 129-132 u. 139.
Hans Delfs (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Der Gesamte Briefwechsel ("Die absolute Wahrheit, so wie ich sie fühle"), Zürich 2010, Nr. 496, 498, 512, 514 u. 530.

"Heute Nacht fahre ich nach Lübeck und von da nach Fehmarn, um wieder etwas Kraft zu bekommen und zu malen."
Ernst Ludwig Kirchner an Gustav Schiefler, Anfang Juni 1913, zit. nach: Wolfgang Henze (Bearb.), Briefwechsel 1910-1935/1938, Stuttgart/Zürich 1990, Brief Nr. 34, S. 62.

"Sehr geehrte Frau Kirchner, Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß Kirchner die Gebote meiner Collegen, sowie mein eigenes, angenommen hat; demnach erhält Herr [..] Dr. Isernhagen das Fehmarnbild zu M 400,–."
Carl Hagemann an Erna Kirchner, Brief vom 25.1.1918, zit. nach: Hans Delfs et al. (Hrsg.), Kirchner, Schmidt-Rottluff, Nolde, Nay .. Briefe an den Sammler und Mäzen Carl Hagemann, Ostfildern 2004, Nr. 131.

E. L. Kirchners Arkadien. Rückzug aus der Großstadt
"Heute Nacht fahre ich nach Lübeck und von da nach Fehmarn, um wieder etwas Kraft zu bekommen und zu malen", schreibt Ernst Ludwig Kirchner Anfang Juni 1913, im Entstehungsjahr der hier angebotenen Arbeit, an den Hamburger Kunstsammler Gustav Schiefler, seinen engen Vertrauten und Verfasser des ersten Werkverzeichnisses seiner Druckgrafik (zit. nach: Wolfgang Henze (Bearb.), Briefwechsel 1910-1935/1938, Stuttgart/Zürich 1990, Brief Nr. 34, S. 62).
Bereits in den frühen "Brücke"-Jahren ab 1905 entdecken E. L. Kirchner und seine Künstlerkollegen (darunter Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff) die Moritzburger Teiche nahe Dresden als ihren gemeinsamen Rückzugsort während der Sommermonate. In den Berliner Schaffensjahren zwischen 1911 und 1917, in denen auch die hier angebotene Arbeit entsteht, zieht es E. L. Kirchner dann insbesondere an die Ostsee-Küste, die er als sein 'Arkadien' fernab Berlins auserwählt, und die sich in den darauffolgenden Jahren als besonders wichtige Inspirationsquelle erweist. Der allzu lauten, hektischen und anonymen Großstadt Berlin entfliehend und auf seiner Suche nach größtmöglicher Ursprünglichkeit findet der Künstler hier die ersehnte Einheit von Kunst und Natur und genießt ein einfacheres, ruhigeres Leben.
1908 reist Kirchner zum ersten Mal auf die schöne Ostseeinsel Fehmarn. Die dortige Landschaft mit ihren steilen Klippen und schönem Sandstrand, das Rauschen des Meeres, die manchmal stürmischen Winde, hohen Wellen und schäumende Gischt, die Ungezwungenheit der im Meer badenden Frauen und Männer, die Weite des Horizonts, die andersartige Vegetation aus Silberpappeln, Weiden und Dünengras empfindet der Maler als zutiefst inspirierend. "Leider, leider müssen wir bald zurück. Sie glauben nicht wie schwer uns das fällt. Ich weiss nicht, ob das Meer im Sommer oder im Herbst am schönsten ist. Ich male soviel wie möglich um wenigstens etwas von den tausend Dingen die ich malen möchte mitzuschleppen", schreibt Kirchner im Entstehungsjahr unseres Bildes 1913 in einem Brief an seinen Schüler und Malerkollegen Hans Gewecke. (24.9.1913, Brief Nr. 193, in: Skizzenbuch Nr. 35, Kirchner Museum Davos)

Küste, Strand und Meer. Das malerische Fehmarn
Im Sommer 1913 wird Kirchner wie zuvor schon 1912 von seiner Lebensgefährtin Erna Schilling nach Fehmarn begleitet. Er hatte sie erst 1912 in einem Tanzlokal in Berlin kennengelernt. Gemeinsam wohnen sie in diesen Sommermonaten im Südosten der Insel, im Haus des Leuchtturmwärters Lüthmann auf der "Staberhuk". Der nächste Bauernhof ist etwa zwei Kilometer entfernt, bis zum nächstgelegenen Dorf sind es gar zehn Kilometer. So verbringt Kirchner die meiste Zeit an der frischen Luft, beim Baden, Schwimmen, Spazierengehen und Malen am Strand oder an der Steilküste – an dem Ort, an dem auch die hier angebotene Arbeit entsteht. Aus nahezu unnatürlich erhöhter Position, in reduzierter und doch so ausdrucksstarker Farbgebung macht der Künstler hier auf den ersten Blick die Küste, den roséfarbenen Strand, das mit leichter Gischt gekrönte blaue Meer und die kräftig-grüne, ungebändigte Vegetation zum zentralen Motiv seiner so unmittelbaren Darstellung. Doch entgegen der traditionellen und auch der zeitgenössischen Landschaftsmalerei setzt er nicht die Weite des Meeres oder die pittoreske Aussicht über die Künstenlandschaft in Szene. Stattdessen abstrahiert Kirchner die gesehene Natur: Das Meer reduziert er durch den radikal gewählten Bildausschnitt auf kleine Halbkreisformen, deren Rundungen er für den Sandstrand in Rosé und Violett noch einmal wiederholt. Die Vegetation löst er in gerundete, freie Formen und energisch gesetzte Pinselstriche auf und überzieht damit nahezu die gesamte restliche Bildfläche. Hoch über der Szene durchbricht eine Möwe in freiem Flug die Dichte und Enge der Darstellung und evoziert ein Gefühl von Leichtigkeit.
In einem Aufsatz über sein damaliges Schaffen notiert der Künstler später rückblickend: "1912 bis 1914 verbrachte ich mit Erna die Sommermonate auf Fehmarn. Hier lernte ich die letzte Einheit von Mensch und Natur gestalten und vollendete das, was ich in Moritzburg angefangen hatte. Die Farben wurden milder und reicher, die Formen strenger und ferner von der Naturform.“ (E. L. Kirchner, in: Eberhard W. Kornfeld, Ernst Ludwig Kirchner. Nachzeichnung seines Lebens, Ausst.-Kat. Basel 1979, S. 337). Nach dem künstlerisch so herausragenden Sommer des Jahres 1913, dem Entstehungsjahr unseres Gemäldes, besucht Kirchner die Insel im darauffolgenden Jahr noch einmal, muss seinen Aufenthalt jedoch vorzeitig beenden, da Fehmarn aufgrund des beginnenden Ersten Weltkriegs zur strategisch wichtigen Zone und zum militärischen Sperrgebiet zählt. Nie wieder wird der Künstler auf die Insel zurückkehren.

Auf dem Höhepunkt der künstlerischen Entfaltung
Mit beeindruckender Schaffenskraft hält Kirchner auf Fehmarn seine unmittelbare Umgebung fest, deren Motive er nun in seine ganz eigene expressionistische Bildsprache überführt. Die Mehrzahl der Werke entsteht direkt auf der Insel, nur sehr wenige sind nachträgliche Arbeiten aus dem Berliner Atelier. Die verspielte Leichtigkeit der früheren Arbeiten an den Moritzburger Teichen aus den Dresdener "Brücke"-Jahren weicht in den Fehmarn-Bildern einer reiferen, herberen, rhythmisch-schraffierenden Pinselschrift: "Der Farbauftrag in Bildern von 1913 und 1914 erinnert an Gefieder, eine Folge von aufgefächerten, dichten Pinselstrichen, die die gesamte Fläche füllen.“ (Lucius Grisebach, Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938, Köln 1999, S. 95f.)
Die Motivik der "Brücke"-Künstler und insbesondere E. L. Kirchners fokussiert sich in diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf zwei geradezu gegensätzliche Themenbereiche: zum einen auf die Großstadt und die urbane Bevölkerung nach der Jahrhundertwende, die Kirchner u. a. in seinen heute so berühmten sog. "Straßenszenen" porträtiert, und zum anderen auf die Landschaft und die Einheit zwischen Mensch und Natur. Das künstlerische Wirken folgt somit einer gewissen, auch jahrezeitlich bedingten Rhythmik zwischen Stadt- und Landleben, Vergnügungskultur und Natursehnsucht, Nachtlokal und Steilküste. Laut Dr. Wolfgang Henze, Leiter des E. L. Kirchner-Archivs, kommt "das von Kirchner auf Fehmarn geschaffene Werk dem des gleichzeitig in Berlin entstandenen an Umfang und Bedeutung gleich [und ist] diesem komplementär gegenübergestellt“ (Ausst.-Kat. E. L. Kirchner. Eine Ausstellung zum 60. Todestag, Kunstforum Wien, 1998, S. 41).
Tatsächlich schlägt Kirchner mit "Fehmarnlandschaft" jedoch Wege ein, die sich in seinem Schaffen dieser Jahre selten in dieser Intensität wiederfinden: Farbe und Form lösen sich ein Stück weit vom gegenständlichen Motiv und werden wilde, flächige Malerei. Den traditionellen, von der Landschaft in der Romantik geprägten Sehgewohnheiten begegnet Kirchner hier mit reduzierter Farbpalette, Vereinfachung der Form, mutigem, expressivem Pinselstrich sowie zutiefst unkonventionellem Bildausschnitt, und damit mit einer zutiefst modernen Bildsprache. [CH]



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Ernst Ludwig Kirchner
Fehmarnlandschaft, 1913.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 300.000
Ergebnis:
€ 330.200

(inklusive Aufgeld)