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233
Francis Picabia
La résistance, Um 1943.
Öl auf festem Malkarton
Schätzung:
€ 250.000 Ergebnis:
€ 400.000 (inklusive Aufgeld)
La résistance. Um 1943.
Öl auf festem Malkarton.
Borras 756. Rechts unten signiert. 75 x 52 cm (29,5 x 20,4 in).
• Neuentdeckung eines bisher unbekannten Marlene-Dietrich-Porträts.
• Picabias kunsthistorisch bedeutenden, fotobasierten Gemälde der 1940er Jahre werden nur äußerst selten auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten.
• Wegweisendes Werk für die fotobasierten Star-Porträts der Pop-Art.
• Seit den 1970er Jahren Teil einer deutschen Privatsammlung.
• Weitere Gemälde dieser Werkphase befinden sich heute u. a. im Museum of Modern Art, New York, und im Centre Pompidou, Paris.
Mit einer Expertise des Comité Picabia vom 3. November 2021. Das Gemälde wird in das Werkverzeichnis Francis Picabia aufgenommen und ist unter der Registriernummer 2162 verzeichnet.
PROVENIENZ: Galerie Klewan, München (verso mit dem Etikett).
Privatsammlung Nordrhein-Westfalen (um 1977 vom Vorgenannten erworben).
AUSSTELLUNG: Francis Picabia, Städtische Kunsthalle, Düsseldorf, 29.10.-4.12.1983; Kunsthaus Zürich, 3.2.-25.3.1984; Moderna Museet, Stockholm, 7.4.-27.5.1984, Kat. Düsseldorf/Zürich 1983, S. 131 (mit SW-Abb., verso mit dem Etikett des Kunsthaus Zürich und dem Transportetikett nach Düsseldorf).
"Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann."
Francis Picabia, zit. nach: Francis Picabia. Funny Guy & Dada, Hamburg 2015, S. 90.
"Picasso war zwar zwei Jahre jünger als Picabia, doch blieb er in vielerlei Hinsicht der altmodischere Künstler von beiden. [..] Bekanntermaßen lehnte er die Abstraktion ebenso ab wie vorgefertigte, mechanische oder routinehafte Mittel des Kunstschaffens, insbesondere im Zusammenhang mit Fotografie."
Anne Umland, Kuratorin Museum of Modern Art, New York, zit. nach: Francis Picabia, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich / Museum of Modern Art, New York, 2016, S. 14.
Öl auf festem Malkarton.
Borras 756. Rechts unten signiert. 75 x 52 cm (29,5 x 20,4 in).
• Neuentdeckung eines bisher unbekannten Marlene-Dietrich-Porträts.
• Picabias kunsthistorisch bedeutenden, fotobasierten Gemälde der 1940er Jahre werden nur äußerst selten auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten.
• Wegweisendes Werk für die fotobasierten Star-Porträts der Pop-Art.
• Seit den 1970er Jahren Teil einer deutschen Privatsammlung.
• Weitere Gemälde dieser Werkphase befinden sich heute u. a. im Museum of Modern Art, New York, und im Centre Pompidou, Paris.
Mit einer Expertise des Comité Picabia vom 3. November 2021. Das Gemälde wird in das Werkverzeichnis Francis Picabia aufgenommen und ist unter der Registriernummer 2162 verzeichnet.
PROVENIENZ: Galerie Klewan, München (verso mit dem Etikett).
Privatsammlung Nordrhein-Westfalen (um 1977 vom Vorgenannten erworben).
AUSSTELLUNG: Francis Picabia, Städtische Kunsthalle, Düsseldorf, 29.10.-4.12.1983; Kunsthaus Zürich, 3.2.-25.3.1984; Moderna Museet, Stockholm, 7.4.-27.5.1984, Kat. Düsseldorf/Zürich 1983, S. 131 (mit SW-Abb., verso mit dem Etikett des Kunsthaus Zürich und dem Transportetikett nach Düsseldorf).
"Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann."
Francis Picabia, zit. nach: Francis Picabia. Funny Guy & Dada, Hamburg 2015, S. 90.
"Picasso war zwar zwei Jahre jünger als Picabia, doch blieb er in vielerlei Hinsicht der altmodischere Künstler von beiden. [..] Bekanntermaßen lehnte er die Abstraktion ebenso ab wie vorgefertigte, mechanische oder routinehafte Mittel des Kunstschaffens, insbesondere im Zusammenhang mit Fotografie."
Anne Umland, Kuratorin Museum of Modern Art, New York, zit. nach: Francis Picabia, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich / Museum of Modern Art, New York, 2016, S. 14.
Francis Picabia – Zur Wandelbarkeit, Progressivität und Faszination seines Œuvres
Es gibt wohl kaum ein Zitat, das programmatischer für Picabias wechselvolles, vom Kubismus über Dada bis hin zu den fotobasierten Gemälden der 1940er Jahre reichendes Gesamtœuvre stehen könnte, als sein eigener Aphorismus aus der Dada-Zeit: "Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann." Und so wechselt Picabias Denken mehrfach die Richtung und bringt immer wieder von neuem hoch progressive Ergebnisse hervor. Es ist gerade die enorme Wandelbarkeit, die Picabias Œ uvre in besonderer Weise auszeichnet. Picabias Schaffen, das kaum stilistische oder mediale Grenzen kennt, verblüfft und provoziert zugleich. Seine Anfänge liegen im Kubismus: In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entstehen kubistische Gemälde, die Picabias damalige Nähe zu dem zwei Jahre jüngeren Picasso bezeugen, dessen lebenslanges Bekenntnis zur gegenständlichen Malerei Picabias künstlerische Experimentierfreudigkeit jedoch schon bald weit hinter sich lassen sollte.
Picabia wird 1879 in Frankreich als Sohn eines kubanischen Aristokraten und einer Französin aus der wohlhabenden Bourgeoisie geboren, bald schon ist er nicht nur als Künstler, sondern auch für seine Liebe zu schnellen Autos und die lange Reihe seiner Lebensgefährtinnen bekannt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs folgen Picabias avantgardistische Dada-Jahre, in denen er in Paris neben Duchamp mit Collagen und Materialbildern sowie seinen Schriftbildern einen völlig neuen, von den Fesseln jeglicher Tradition befreiten Kunstbegriff propagiert. Picabias teils großformatige, assoziative Schriftbilder dieser Zeit, die auch collagierte und gemalte Elemente integrieren, wirken auf den heutigen Betrachter geradezu wie frühe Vorläufer der völlig freien und unbekümmerten Schöpfungen des amerikanischen Street-Art-Künstlers Jean-Michel Basquiat. Ab Mitte der 1920er Jahre entstehen dann u. a. Landschaften, Stillleben und Porträts aus collagierten Streichhölzern, Zahnstochern, Trinkhalmen, Nudeln sowie Farbdosen und Pinseln, mit denen Picabia den Kunstbegriff in Richtung Materialbild weitet. Ab den späten 1920er Jahren folgen dann Arbeiten, in denen sich figürliche und abstrakte Bildebenen überlagern und damit unsere überkommenen Sehgewohnheiten aufs Neue herausfordern. Für die figürlichen Komponenten greift Picabia von nun an vereinzelt auf fotografische Vorlagen aus diversen Zeitschriften und Magazinen zurück, die er jedoch zunächst nur als Ausgangsbasis verwendet, abstrahiert, kombiniert und mit anderen Bildebenen überlagert, was in Teilen zu beeindruckend schrillen und plakativen Ergebnissen führt, die bereits Elemente der späteren Pop-Art, etwa der Malerei William Copleys, vorwegzunehmen scheinen.
Picabias fotobasierte Malerei der 1940er Jahre - Aufbruch in die figurative Nachkriegsmoderne
Um 1940 gelangt Picabia dann aber zu einem noch unmittelbareren Umgang mit der vielfältigen medialen Bilderflut des Alltags, seine Gemälde schließen fortan abstrakte Elemente und Überlagerungen aus und erreichen auf diese Weise nicht nur eine faszinierende Direktheit, sondern wiederum auch eine verblüffende Modernität. So begeistert etwa das 1942/43 entstandene Gemälde "Portrait d' un couple" (Museum of Modern Art, New York), das vermutlich auf einer Vorlage aus den Printmedien oder aus dem Fersehen basiert, mit einer malerischen Frische und Modernität, wie sie Anfang der 1940er Jahre ungewöhnlich ist und uns heute in ähnlicher Form aus dem in den 1960er Jahren entstandenen Frühwerk des Amerikaners Alex Katz geläufig erscheint. Auch das ebenfalls in den Jahren des Zweiten Weltkriegs entstandene Gemälde "L’Adoration du veau" ("Die Anbetung des Kalbes", Centre Pompidou, Paris) ist von einer geradezu verstörenden stilistischen Modernität. Es basiert auf einer Fotografie Erwin Blumenfelds, die im Sommer 1938 im Paris Magazin unter dem Titel "Surréalisme" publiziert worden ist. Bereits im September 1939 hat Picabia seine Besorgnis über das europäische Kriegsgeschehen geäußert: "Ich verbringe die Zeit damit zu hoffen, dass dies ein Ende nehmen wird, dass es nicht mehr länger dauern kann, dass es ein Albtraum ist und ich aufwachen muss, um ihn zu beenden." (zit. nach: Francis Picabia, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich / Museum of Modern Art, New York, 2016, S. 20). Während der Zeit des Zweiten Weltkriegs hat Picabia viele seiner Werke in seinem damaligen Atelier im Fischerhafen von Golfe-Juan an der Cote d'Azur geschaffen, der wegen des Schwarzhandels streng von der Polizei überwacht wurde, die Bewohner lebten immer in der Gefahr, durch die Gestapo oder die französische Militz verhaftet zu werden. Die amerikanische Schriftstellerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein, die Picabia persönlich gekannt hat, hob als erste hervor, dass die Bilder, die Picabia in dieser Atmosphäre schuf, auf Fotografien basieren. Erst in den 1990er Jahren jedoch konnten von der Forschung erste Quellen für diese häufig erotischen Kompositionen – wie etwa das 2017 für 2,5 Millionen Euro versteigerte Gemälde "Adam et Ève" (1942) – in der populären und leicht zugänglichen Erotikpresse der 1930er Jahre nachgewiesen werden.
"La résistance" – Neuentdeckung eines geheimnisvollen Marlene-Porträts
In dieser Zeit entsteht auch unser geheimnisvoll-verschlossen wirkendes Damenbildnis, das aufgrund der unnahbaren Androgynität der Dargestellten eine ganz besondere Aura umgibt. Dem Katalog der 1983/84 in Düsseldorf, Zürich und Stockholm gezeigten Picabia-Ausstellung ist zu unserem geheimnisvollen Porträt, das nun erstmals aus dem Besitz einer deutschen Privatsammlung auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten wird, lediglich Folgendes zu entnehmen: "Ein Porträt von 1941 ('La Résistance') zeigt ein maskenhaftes Gesicht mit übermäßig hoher, gewölbter Stirn, stolz und verschlossen. Das Photo einer Vedette oder populären Sängerin könnte ihm als Modell gedient haben." (S. XLI). Einmal gesehen, geht einem die geheimnisvolle Unbekannte nicht mehr aus dem Kopf, die durch ihre Souveränität und androgyne Weiblichkeit alle Blicke auf sich zieht, und es bleibt die quälende Frage nach ihrer Identität. Aller Wahrscheinlichkeit nach tritt uns in Picabias geheimnisvoller Schöpfung ein Porträt Marlene Dietrichs entgegen, die kurz vor Kriegsbeginn ihren Hauptwohnsitz nach Paris verlegt und in den Kriegsjahren als Sängerin für die Truppen der Alliierten ihren Anteil im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu leisten versucht. "La résistance" lautet der Titel dieses besonderen Gemäldes, für das wir nun eine Fotografie von Laszlo Willinger aus dem Jahr 1942 als fotografische Basis ausfindig machen konnten, auf welche Picabia vermutlich über einen in der Vogue publizierten Artikel über Marlene Dietrich aufmerksam geworden ist. Der Artikel über Marlene Dietrichs Engagement als Sängerin bei den US-Truppen erschien in der Juli Ausgabe von 1942 gemeinsam mit dem Artikel "Gertrude Stein in France", der Picabia sicherlich aufgrund seiner Freundschaft zu der bedeutenden Mäzenin der europäischen Moderne bekannt war. Willingers Fotografie zeigt die berühmte deutsche Sängerin und Schauspielerin, die bis heute aufgrund ihres unverwechselbaren, emanzipierten Stils als eine Art "Göttin der Androgynität" gefeiert wird, in weißer Hemdbluse und schwarzer "Marlene-Hose" kontrastreich und entrückt inszeniert im starken Scheinwerferlicht. Picabia entscheidet sich in seiner malerischen Umsetzung für einen kleineren, zoomartig auf die geradezu unwirklich erscheinenden Gesichtszüge fokussierten Bildausschnitt, der die einzigartige Aura der Dargestellten ganz ins Zentrum rückt.
Picabias vollkommen neuartiger und souveräner Umgang mit dem Bildmaterial der aufkommenden Massenmedien sollte wegweisend sein für die fotobasierte Kunst der amerikanischen Pop-Art der 1960er Jahre. Kunsthistorisch bedeutend ist Picabias progressiver Ansatz, mit dem er den klassischen, traditionell um das Thema der Originalität kreisenden Kunstbegriff mit seinen um 1940 entstandenen Gemälden auf Basis fotografischer Vorlagen hin zu einem erweiterten Kunstbegriff wandelt, der für die 1960er Jahre schließlich bis hin zu Gerhard Richters frühen schwarz-weißen Fotogemälden grundlegend sein sollte. Richter hat in den 1960er Jahren begonnen, in den populären Massenmedien auf die Suche nach geeigneten Motiven zu gehen, und diese in seinem berühmten "Atlas" archiviert. Die Auseinandersetzung der Malerei mit der vielfältigen medialen Bilderflut unseres Alltags ist bis heute eines der zentralen Themen zeitgenössischer Kunst. Dass Picabia bereits um 1940 die Fotografie zur legitimen Inspirationsquelle der Malerei erklärt hat, war ein äußerst mutiger Schritt, der schließlich für die Kunst der amerikanischen Pop-Art maßgeblich von Bedeutung war. Und so ist etwa für die beiden Pop-Art-Künstler Robert Rauschenberg und William Copley eine große Bewunderung für Picabias fotobasierte Malerei der 1940er Jahre belegt. Macht man sich diese kunsthistorische Entwicklung bewusst, muss Picabias geheimnisvolles Marlene-Porträt "La résistance" also geradezu zwangsläufig als ein bedeutender Vorläufer von Warhols berühmtem, 25 Jahre später entstandenem Werk "Marilyn" (1967) gesehen werden, das, ebenfalls basierend auf einem zeitgenössischen Foto, die amerikanische Schauspielerin Marilyn Monroe auch zu einer künstlerischen Ikone werden ließ. [JS]
Es gibt wohl kaum ein Zitat, das programmatischer für Picabias wechselvolles, vom Kubismus über Dada bis hin zu den fotobasierten Gemälden der 1940er Jahre reichendes Gesamtœuvre stehen könnte, als sein eigener Aphorismus aus der Dada-Zeit: "Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann." Und so wechselt Picabias Denken mehrfach die Richtung und bringt immer wieder von neuem hoch progressive Ergebnisse hervor. Es ist gerade die enorme Wandelbarkeit, die Picabias Œ uvre in besonderer Weise auszeichnet. Picabias Schaffen, das kaum stilistische oder mediale Grenzen kennt, verblüfft und provoziert zugleich. Seine Anfänge liegen im Kubismus: In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entstehen kubistische Gemälde, die Picabias damalige Nähe zu dem zwei Jahre jüngeren Picasso bezeugen, dessen lebenslanges Bekenntnis zur gegenständlichen Malerei Picabias künstlerische Experimentierfreudigkeit jedoch schon bald weit hinter sich lassen sollte.
Picabia wird 1879 in Frankreich als Sohn eines kubanischen Aristokraten und einer Französin aus der wohlhabenden Bourgeoisie geboren, bald schon ist er nicht nur als Künstler, sondern auch für seine Liebe zu schnellen Autos und die lange Reihe seiner Lebensgefährtinnen bekannt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs folgen Picabias avantgardistische Dada-Jahre, in denen er in Paris neben Duchamp mit Collagen und Materialbildern sowie seinen Schriftbildern einen völlig neuen, von den Fesseln jeglicher Tradition befreiten Kunstbegriff propagiert. Picabias teils großformatige, assoziative Schriftbilder dieser Zeit, die auch collagierte und gemalte Elemente integrieren, wirken auf den heutigen Betrachter geradezu wie frühe Vorläufer der völlig freien und unbekümmerten Schöpfungen des amerikanischen Street-Art-Künstlers Jean-Michel Basquiat. Ab Mitte der 1920er Jahre entstehen dann u. a. Landschaften, Stillleben und Porträts aus collagierten Streichhölzern, Zahnstochern, Trinkhalmen, Nudeln sowie Farbdosen und Pinseln, mit denen Picabia den Kunstbegriff in Richtung Materialbild weitet. Ab den späten 1920er Jahren folgen dann Arbeiten, in denen sich figürliche und abstrakte Bildebenen überlagern und damit unsere überkommenen Sehgewohnheiten aufs Neue herausfordern. Für die figürlichen Komponenten greift Picabia von nun an vereinzelt auf fotografische Vorlagen aus diversen Zeitschriften und Magazinen zurück, die er jedoch zunächst nur als Ausgangsbasis verwendet, abstrahiert, kombiniert und mit anderen Bildebenen überlagert, was in Teilen zu beeindruckend schrillen und plakativen Ergebnissen führt, die bereits Elemente der späteren Pop-Art, etwa der Malerei William Copleys, vorwegzunehmen scheinen.
Picabias fotobasierte Malerei der 1940er Jahre - Aufbruch in die figurative Nachkriegsmoderne
Um 1940 gelangt Picabia dann aber zu einem noch unmittelbareren Umgang mit der vielfältigen medialen Bilderflut des Alltags, seine Gemälde schließen fortan abstrakte Elemente und Überlagerungen aus und erreichen auf diese Weise nicht nur eine faszinierende Direktheit, sondern wiederum auch eine verblüffende Modernität. So begeistert etwa das 1942/43 entstandene Gemälde "Portrait d' un couple" (Museum of Modern Art, New York), das vermutlich auf einer Vorlage aus den Printmedien oder aus dem Fersehen basiert, mit einer malerischen Frische und Modernität, wie sie Anfang der 1940er Jahre ungewöhnlich ist und uns heute in ähnlicher Form aus dem in den 1960er Jahren entstandenen Frühwerk des Amerikaners Alex Katz geläufig erscheint. Auch das ebenfalls in den Jahren des Zweiten Weltkriegs entstandene Gemälde "L’Adoration du veau" ("Die Anbetung des Kalbes", Centre Pompidou, Paris) ist von einer geradezu verstörenden stilistischen Modernität. Es basiert auf einer Fotografie Erwin Blumenfelds, die im Sommer 1938 im Paris Magazin unter dem Titel "Surréalisme" publiziert worden ist. Bereits im September 1939 hat Picabia seine Besorgnis über das europäische Kriegsgeschehen geäußert: "Ich verbringe die Zeit damit zu hoffen, dass dies ein Ende nehmen wird, dass es nicht mehr länger dauern kann, dass es ein Albtraum ist und ich aufwachen muss, um ihn zu beenden." (zit. nach: Francis Picabia, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich / Museum of Modern Art, New York, 2016, S. 20). Während der Zeit des Zweiten Weltkriegs hat Picabia viele seiner Werke in seinem damaligen Atelier im Fischerhafen von Golfe-Juan an der Cote d'Azur geschaffen, der wegen des Schwarzhandels streng von der Polizei überwacht wurde, die Bewohner lebten immer in der Gefahr, durch die Gestapo oder die französische Militz verhaftet zu werden. Die amerikanische Schriftstellerin und Kunstsammlerin Gertrude Stein, die Picabia persönlich gekannt hat, hob als erste hervor, dass die Bilder, die Picabia in dieser Atmosphäre schuf, auf Fotografien basieren. Erst in den 1990er Jahren jedoch konnten von der Forschung erste Quellen für diese häufig erotischen Kompositionen – wie etwa das 2017 für 2,5 Millionen Euro versteigerte Gemälde "Adam et Ève" (1942) – in der populären und leicht zugänglichen Erotikpresse der 1930er Jahre nachgewiesen werden.
"La résistance" – Neuentdeckung eines geheimnisvollen Marlene-Porträts
In dieser Zeit entsteht auch unser geheimnisvoll-verschlossen wirkendes Damenbildnis, das aufgrund der unnahbaren Androgynität der Dargestellten eine ganz besondere Aura umgibt. Dem Katalog der 1983/84 in Düsseldorf, Zürich und Stockholm gezeigten Picabia-Ausstellung ist zu unserem geheimnisvollen Porträt, das nun erstmals aus dem Besitz einer deutschen Privatsammlung auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten wird, lediglich Folgendes zu entnehmen: "Ein Porträt von 1941 ('La Résistance') zeigt ein maskenhaftes Gesicht mit übermäßig hoher, gewölbter Stirn, stolz und verschlossen. Das Photo einer Vedette oder populären Sängerin könnte ihm als Modell gedient haben." (S. XLI). Einmal gesehen, geht einem die geheimnisvolle Unbekannte nicht mehr aus dem Kopf, die durch ihre Souveränität und androgyne Weiblichkeit alle Blicke auf sich zieht, und es bleibt die quälende Frage nach ihrer Identität. Aller Wahrscheinlichkeit nach tritt uns in Picabias geheimnisvoller Schöpfung ein Porträt Marlene Dietrichs entgegen, die kurz vor Kriegsbeginn ihren Hauptwohnsitz nach Paris verlegt und in den Kriegsjahren als Sängerin für die Truppen der Alliierten ihren Anteil im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu leisten versucht. "La résistance" lautet der Titel dieses besonderen Gemäldes, für das wir nun eine Fotografie von Laszlo Willinger aus dem Jahr 1942 als fotografische Basis ausfindig machen konnten, auf welche Picabia vermutlich über einen in der Vogue publizierten Artikel über Marlene Dietrich aufmerksam geworden ist. Der Artikel über Marlene Dietrichs Engagement als Sängerin bei den US-Truppen erschien in der Juli Ausgabe von 1942 gemeinsam mit dem Artikel "Gertrude Stein in France", der Picabia sicherlich aufgrund seiner Freundschaft zu der bedeutenden Mäzenin der europäischen Moderne bekannt war. Willingers Fotografie zeigt die berühmte deutsche Sängerin und Schauspielerin, die bis heute aufgrund ihres unverwechselbaren, emanzipierten Stils als eine Art "Göttin der Androgynität" gefeiert wird, in weißer Hemdbluse und schwarzer "Marlene-Hose" kontrastreich und entrückt inszeniert im starken Scheinwerferlicht. Picabia entscheidet sich in seiner malerischen Umsetzung für einen kleineren, zoomartig auf die geradezu unwirklich erscheinenden Gesichtszüge fokussierten Bildausschnitt, der die einzigartige Aura der Dargestellten ganz ins Zentrum rückt.
Picabias vollkommen neuartiger und souveräner Umgang mit dem Bildmaterial der aufkommenden Massenmedien sollte wegweisend sein für die fotobasierte Kunst der amerikanischen Pop-Art der 1960er Jahre. Kunsthistorisch bedeutend ist Picabias progressiver Ansatz, mit dem er den klassischen, traditionell um das Thema der Originalität kreisenden Kunstbegriff mit seinen um 1940 entstandenen Gemälden auf Basis fotografischer Vorlagen hin zu einem erweiterten Kunstbegriff wandelt, der für die 1960er Jahre schließlich bis hin zu Gerhard Richters frühen schwarz-weißen Fotogemälden grundlegend sein sollte. Richter hat in den 1960er Jahren begonnen, in den populären Massenmedien auf die Suche nach geeigneten Motiven zu gehen, und diese in seinem berühmten "Atlas" archiviert. Die Auseinandersetzung der Malerei mit der vielfältigen medialen Bilderflut unseres Alltags ist bis heute eines der zentralen Themen zeitgenössischer Kunst. Dass Picabia bereits um 1940 die Fotografie zur legitimen Inspirationsquelle der Malerei erklärt hat, war ein äußerst mutiger Schritt, der schließlich für die Kunst der amerikanischen Pop-Art maßgeblich von Bedeutung war. Und so ist etwa für die beiden Pop-Art-Künstler Robert Rauschenberg und William Copley eine große Bewunderung für Picabias fotobasierte Malerei der 1940er Jahre belegt. Macht man sich diese kunsthistorische Entwicklung bewusst, muss Picabias geheimnisvolles Marlene-Porträt "La résistance" also geradezu zwangsläufig als ein bedeutender Vorläufer von Warhols berühmtem, 25 Jahre später entstandenem Werk "Marilyn" (1967) gesehen werden, das, ebenfalls basierend auf einem zeitgenössischen Foto, die amerikanische Schauspielerin Marilyn Monroe auch zu einer künstlerischen Ikone werden ließ. [JS]
233
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