Rahmenbild
Weitere Abbildung
Weitere Abbildung
Weitere Abbildung
Weitere Abbildung
Weitere Abbildung
Weitere Abbildung
Weitere Abbildung
320
Ernst Ludwig Kirchner
Sertigweg, 1937.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 400.000 Ergebnis:
€ 1.465.000 (inkl. Käuferaufgeld)
Sertigweg. 1937.
Öl auf Leinwand.
Gordon 1015. Links oben mit der geritzten Signatur, links unten mit dem geritzten Monogramm. Verso signiert und betitelt. 120 x 100 cm (47,2 x 39,3 in).
• Noch im Entstehungsjahr in der Kunsthalle in Basel ausgestellt
• Aus der wichtigen Kirchner Sammlung Dr. Bauer, Davos
• Laut Gordon eines der letzten Bilder Kirchners
• Die im Sommer 1937 den Künstler zutiefst irritierenden Ereignisse in Deutschland um die Diffamierung der Moderne lassen Kirchners Blick auf die Sertigtal-Landschaft mehr als versöhnlich erscheinen
• In der Einsamkeit von Kirchners letztem Rückzugsort, dem "Haus am Wildboden", im Sertigtal bei Davos entstanden, wo Kirchner 1938 den Freitod wählt.
Wir danken Herrn Dr. Wolfgang Henze, Wichtrach/Bern, für die freundliche wissenschaftliche Beratung.
PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers.
Erna Kirchner (1938 durch Erbschaft vom Vorgenannten).
Dr. Frédéric Bauer, Davos (am 2.3.1939 von Vorgenannter erworben - mindestens 1952).
Curt Valentin Gallery, New York.
Nachlass Curt Valentin, New York (1954-1955).
Margarete Schultz, Great Neck/New York (im Juli 1955 aus vorgenanntem Nachlass erworben - 1965).
Caroline und Stephen Adler, Holliswood/New York (im Juni 1965 von der Vorgenannten als Geschenk erhalten - 1972).
Siegfried Adler, Montagnola (1972 von der Vorgenannten erworben).
Privatsammlung Roman Norbert Ketterer, Campione d'Italia/Lugano (1974 vom Vorgenannten erworben).
Privatsammlung Schweiz (seit 2002).
Galerie Neher, Essen (2014).
Privatsammlung Berlin.
AUSSTELLUNG: Kirchner, Kunsthalle Basel, 30.10.-27.11.1937, Nr. 258.
Ernst Ludwig Kirchner, Gemälde und Graphik der Sammlung F. Bauer, Davos, Wanderausstellung Kunsthalle Nürnberg-Fränkische Galerie; Haus der Kunst, München; Museum am Ostwall, Dortmund; Haus am Waldsee, Berlin, u. a., 1952/53, Nr. 27 mit Abb. S. 54.
Ernst Ludwig Kirchner: a retrospective exhibition, Wanderausstellung Seattle Art Museum; Pasadena Art Museum; Museum of Fine Arts, Boston, 23.11.-27.4.1969, Nr. 68, S. 32f. mit Abb.
18. Kunstausstellung Trubschachen - Schweizer Künstlerinnen und Künstler, Trubschachen 2009, Kat. 8.
Expressionisten der „Brücke“ und die Natur, Galerie Henze & Ketterer & Triebold in Riehen/Basel, 4.5.-7.9.2013, ohne Nr. (ID 76835).
Philadelphia Museum of Art, Philadelphia/PA, Dauerleihgabe 1.9.2016-27.10.2020.
LITERATUR: Donald E. Gordon und Margarethe Schultz, Korrespondenzen Februar-Mai 1964 (Typoskript/Manuskript, Nachlass Donald Gordon - University of Pittsburgh, series 1, box 5, folder 106).
Franz Roh, Begegnungen mit modernen Malern, in: Aus unserer Zeit. Einmalige Sonderausgabe für die Mitarbeiter des Hauses Siemens, München 1957, Farbabb. S. 119.
Franz Roh, Geschichte der deutschen Kunst von 1900 bis zur Gegenwart, München 1958, Farbabb. Tafel IV.
Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde, München 1968, S. 154 mit Farbabb. S. 153.
Donald E. Gordon, Introduction and Chronology, in: E. L. Kirchner - A Retrospektive Exhibition, Seattle, Pasadena, Boston, 1968-1969, S. 15-33, S. 32, Abb. S. 33.
Walter Lepori, Zauberberge - zu Ernst Ludwig Kirchners Davoser Bergbildern, Lizentiatsarbeit Zürich, 1988, S. 70, Abb. 93.
Lucius Grisebach, Von Davos nach Davos. Ernst Ludwig Kirchner und die Familien Grisebach und Spengler in Jena und Davos, in: Davoser Revue, Nr. 3, 1992, S. 30-47, Abb. S. 45.
Lothar Grisebach (Hrsg.), E. L. Kirchners Davoser Tagebuch, Stuttgart 1997, S. 86.
Roman Norbert Ketterer, Legenden am Auktionspult. Die Wiederentdeckung des deutschen Expressionismus, München 1999, S. 278, Farbabb. S. 279.
Kirchner Museum Davos (Hrsg.), Frédéric Bauer (= Magazin des Kirchner Museums Davos 5.2004), Nr. 202, S. 168.
Wolfgang Henze, Ernst Ludwig Kirchners späte Kunst-Theorie, in: Kunst - Geschichte - Wahrnehmung - Strukturen und Mechanismen von Wahrnehmungsstrategien, München/Berlin, 2008, S. 144-162, S. 149.
Hans Delfs, Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel, Bd. 4: Briefe von 1932 bis 1942, Stockdorf [Privatdruck] 2010, Nrn. 2964, 3440, 3443, 3586, S. 2685, 3080, 3084, 3177.
Ruth Michel und Konrad Richter, Wandern wie gemalt. Graubünden. Auf den Spuren bekannter Gemälde, Zürich 2015, Farbabb. S. 217.
"Es stehen die Farben der Phantasie, und doch muss ich ganz nahe an der Natur arbeiten."
E. L. Kirchner, zit. nach: Gaia Regazzoni Jäggli, Und die Erhabenheit der Berge, Lugano 2021, S. 56.
"Er passt sich [..] völlig seiner Umgebung an und wohnt noch heute in dem schlichten alten Berghaus, er lebt unter den Berglern wie einer von ihnen. Sein Freiheitsdrang, sein Gefühl der Gleichheit mit den anderen, seine grosse Liebe zur Natur und den Tieren machten ihm die sehr zurückgezogenen Bergbewohner zu Freunden. Sie litten ihn unter sich, er konnte nach ihnen malen und zeichnen. So wurde sein Werk."
Wolfgang Henze 2002, zit. nach Matthias Frehner et al., Expressionismus aus den Bergen, Bern 2007, S. 23.
Öl auf Leinwand.
Gordon 1015. Links oben mit der geritzten Signatur, links unten mit dem geritzten Monogramm. Verso signiert und betitelt. 120 x 100 cm (47,2 x 39,3 in).
• Noch im Entstehungsjahr in der Kunsthalle in Basel ausgestellt
• Aus der wichtigen Kirchner Sammlung Dr. Bauer, Davos
• Laut Gordon eines der letzten Bilder Kirchners
• Die im Sommer 1937 den Künstler zutiefst irritierenden Ereignisse in Deutschland um die Diffamierung der Moderne lassen Kirchners Blick auf die Sertigtal-Landschaft mehr als versöhnlich erscheinen
• In der Einsamkeit von Kirchners letztem Rückzugsort, dem "Haus am Wildboden", im Sertigtal bei Davos entstanden, wo Kirchner 1938 den Freitod wählt.
Wir danken Herrn Dr. Wolfgang Henze, Wichtrach/Bern, für die freundliche wissenschaftliche Beratung.
PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers.
Erna Kirchner (1938 durch Erbschaft vom Vorgenannten).
Dr. Frédéric Bauer, Davos (am 2.3.1939 von Vorgenannter erworben - mindestens 1952).
Curt Valentin Gallery, New York.
Nachlass Curt Valentin, New York (1954-1955).
Margarete Schultz, Great Neck/New York (im Juli 1955 aus vorgenanntem Nachlass erworben - 1965).
Caroline und Stephen Adler, Holliswood/New York (im Juni 1965 von der Vorgenannten als Geschenk erhalten - 1972).
Siegfried Adler, Montagnola (1972 von der Vorgenannten erworben).
Privatsammlung Roman Norbert Ketterer, Campione d'Italia/Lugano (1974 vom Vorgenannten erworben).
Privatsammlung Schweiz (seit 2002).
Galerie Neher, Essen (2014).
Privatsammlung Berlin.
AUSSTELLUNG: Kirchner, Kunsthalle Basel, 30.10.-27.11.1937, Nr. 258.
Ernst Ludwig Kirchner, Gemälde und Graphik der Sammlung F. Bauer, Davos, Wanderausstellung Kunsthalle Nürnberg-Fränkische Galerie; Haus der Kunst, München; Museum am Ostwall, Dortmund; Haus am Waldsee, Berlin, u. a., 1952/53, Nr. 27 mit Abb. S. 54.
Ernst Ludwig Kirchner: a retrospective exhibition, Wanderausstellung Seattle Art Museum; Pasadena Art Museum; Museum of Fine Arts, Boston, 23.11.-27.4.1969, Nr. 68, S. 32f. mit Abb.
18. Kunstausstellung Trubschachen - Schweizer Künstlerinnen und Künstler, Trubschachen 2009, Kat. 8.
Expressionisten der „Brücke“ und die Natur, Galerie Henze & Ketterer & Triebold in Riehen/Basel, 4.5.-7.9.2013, ohne Nr. (ID 76835).
Philadelphia Museum of Art, Philadelphia/PA, Dauerleihgabe 1.9.2016-27.10.2020.
LITERATUR: Donald E. Gordon und Margarethe Schultz, Korrespondenzen Februar-Mai 1964 (Typoskript/Manuskript, Nachlass Donald Gordon - University of Pittsburgh, series 1, box 5, folder 106).
Franz Roh, Begegnungen mit modernen Malern, in: Aus unserer Zeit. Einmalige Sonderausgabe für die Mitarbeiter des Hauses Siemens, München 1957, Farbabb. S. 119.
Franz Roh, Geschichte der deutschen Kunst von 1900 bis zur Gegenwart, München 1958, Farbabb. Tafel IV.
Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde, München 1968, S. 154 mit Farbabb. S. 153.
Donald E. Gordon, Introduction and Chronology, in: E. L. Kirchner - A Retrospektive Exhibition, Seattle, Pasadena, Boston, 1968-1969, S. 15-33, S. 32, Abb. S. 33.
Walter Lepori, Zauberberge - zu Ernst Ludwig Kirchners Davoser Bergbildern, Lizentiatsarbeit Zürich, 1988, S. 70, Abb. 93.
Lucius Grisebach, Von Davos nach Davos. Ernst Ludwig Kirchner und die Familien Grisebach und Spengler in Jena und Davos, in: Davoser Revue, Nr. 3, 1992, S. 30-47, Abb. S. 45.
Lothar Grisebach (Hrsg.), E. L. Kirchners Davoser Tagebuch, Stuttgart 1997, S. 86.
Roman Norbert Ketterer, Legenden am Auktionspult. Die Wiederentdeckung des deutschen Expressionismus, München 1999, S. 278, Farbabb. S. 279.
Kirchner Museum Davos (Hrsg.), Frédéric Bauer (= Magazin des Kirchner Museums Davos 5.2004), Nr. 202, S. 168.
Wolfgang Henze, Ernst Ludwig Kirchners späte Kunst-Theorie, in: Kunst - Geschichte - Wahrnehmung - Strukturen und Mechanismen von Wahrnehmungsstrategien, München/Berlin, 2008, S. 144-162, S. 149.
Hans Delfs, Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel, Bd. 4: Briefe von 1932 bis 1942, Stockdorf [Privatdruck] 2010, Nrn. 2964, 3440, 3443, 3586, S. 2685, 3080, 3084, 3177.
Ruth Michel und Konrad Richter, Wandern wie gemalt. Graubünden. Auf den Spuren bekannter Gemälde, Zürich 2015, Farbabb. S. 217.
"Es stehen die Farben der Phantasie, und doch muss ich ganz nahe an der Natur arbeiten."
E. L. Kirchner, zit. nach: Gaia Regazzoni Jäggli, Und die Erhabenheit der Berge, Lugano 2021, S. 56.
"Er passt sich [..] völlig seiner Umgebung an und wohnt noch heute in dem schlichten alten Berghaus, er lebt unter den Berglern wie einer von ihnen. Sein Freiheitsdrang, sein Gefühl der Gleichheit mit den anderen, seine grosse Liebe zur Natur und den Tieren machten ihm die sehr zurückgezogenen Bergbewohner zu Freunden. Sie litten ihn unter sich, er konnte nach ihnen malen und zeichnen. So wurde sein Werk."
Wolfgang Henze 2002, zit. nach Matthias Frehner et al., Expressionismus aus den Bergen, Bern 2007, S. 23.
Der Sertigweg
Der Weg entlang des Sertigbachs führt unterhalb von Kirchners Wohnhaus vorbei in südöstlicher Richtung hinauf durch das Seitental Sertig. Im Hintergrund rechts der Piz Ducan, links noch angedeutet das Mittaghorn, beide Gipfel knapp über 3.000 Meter. Im Sommer 1924 malt Kirchner das Tal wohl zum ersten Mal, ein Pferd zieht ein Gespann mit zwei Bauern den ansteigenden Weg hinauf zu den vereinzelten Häusern am Rand der Alm, im Übergang zum beginnenden Bergwald. Sommerliche Farben prägen die Bergromantik, es ist die Zeit, in der Kirchner den Bergbauern huldigt mit panoramaartigen, großformatigen Landschaften wie den Gemälden „Alpsonntag“ oder „Sonntag der Bergbauern“.
1937, 14 Jahre später, scheint Kirchners Palette dem hochsommerlichen Wetter und der Temperatur entsprechend gewandelt in ein sattes Grün im Wechsel mit einem den leichten Dunst andeutenden Blau: Eine leise, sengende Nachmittagshitze wirft den Schatten der Bäume über den leicht ansteigenden Weg, der mitten durch sanfte, hügelige Wiesen führt. Auch die beiden unterschiedlich großen Gestalten, vielleicht ein Mann mit Kind, vielleicht eine Frau mit Kind, die des Weges gehen, werfen ihren kurzen Schatten. Alles scheint fast sachlich geordnet; das Nadelholz wächst ohne feste Konturen parallel zum ansteigenden Tal hinauf bis zur Baumgrenze, rahmt den Blick auf das felsige Bergmassiv. Der strahlend blaue Himmel ist belebt von Wolken, die das Grün der Berghänge spiegeln. Kirchner versteht es immer wieder, das so lange, immerfort Gesehene, wie hier aus seinem Atelierfenster, in eine einheitliche Bildstruktur einzubinden, in der das Grün und das Blau mit wenig zart gesetzten orangeroten Lichtkontrasten in einem einzigartigen koloristischen Klang aufgehen.
Der Umzug und neue Energie
Ernst Ludwig Kirchner sieht das friedlich vor ihm liegende Tal mit dem in leichtem Bogen befestigten Weg, dem vom Berg herunterschnellenden Bach zwischen den Nadelbäumen jeden Tag, zu jeder Tageszeit, zu jeder Jahreszeit, mit unterschiedlichsten Wettern bald 14 Jahre. Im September 1923 müssen die Kirchners das Haus „In den Lärchen“ verlassen; sie suchen und finden ein altes Walser Bauernhaus auf dem Wildboden am Eingang zum Sertigtal, das dem Haupteigentümer des Wildbodens, dem Bauern Louis Oberrauch, gehört. Sie bezahlen für Haus und Garten eine Jahresmiete von 240 Franken. Vor ihrem Einzug werden einige Arbeiten am Haus ausgeführt. Auch das Fenster der nach Osten gelegenen Kammer, die Kirchner als Atelier benutzen möchte, wird vergrößert. „Unser neues Häuschen ist eine wahre Freude für uns. Wir werden da gut hausen und in grosser neuer Ordnung. Dies soll wirklich ein Wendepunkt meines Lebens werden. Alles muss in übersichtliche Ordnung gebracht werden und das Häuschen selbst so einfach und schlicht wie nur möglich ausgestattet, aber schön und intim“, schreibt Kirchner am 7. September 1923 in sein Tagebuch (Davoser Tagebuch, Stuttgart 1997, S. 69). Erneut genießt der Künstler einen ungehinderten Blick auf die Bergwelt. Von der schmalen Veranda vor dem Haus kann Kirchner ins Landwassertal sehen, zur Stafelalp hinauf, seinem bisherigen Zuhause, hinüber nach Frauenkirch und von der Westseite des freistehenden Hauses in anderer Richtung bis nach Davos Platz.
Der Wildboden, eine ebene Moräne mit üppigem Graswuchs, ist ein Plateau unterhalb der Siedlung Clavadel. Er befindet sich auf einem Delta des vorgeschichtlichen Davoser Großsees, der sich vom Wolfgangpass bis nach Monstein ausdehnt. „Wilde“, wie der Wildboden genannt wird, weil er den kalten Nordwinden ausgesetzt ist, und so das Haus der Kirchners im Winter nicht nur oft von hohem Schnee umgeben ist und somit auch auf die beschwerliche Bewirtschaftung des Inneren Einfluss nimmt. Kirchners Energie bleibt hiervon unberührt: Er richtet sich im oberen Stock ein Malatelier und eine Druckwerkstatt ein und im angrenzenden Stall ein Bildhaueratelier. Den Zaun vor dem Haus schmückt er mit selbst geschnitzten Figuren. Kirchner wird weltzugewandt, er besucht die Cafés von Davos, fährt nach Basel, Chur und Zürich, veröffentlicht Aufsätze, nimmt an Ausstellungen teil und korrespondiert unermüdlich mit seinen Ärzten, mit einem großen Kreis von Persönlichkeiten der Kunstszene, die ihn auch besuchen, unter anderem Gustav Schiefler, Carl Hagemann, Alfred Döblin, Fritz Winter, Oskar Schlemmer, Jan Wiegers, der Kunsthändler Curt Valentin, der Museumsdirektor Wilhelm R. Valentiner und die Tänzerin Gret Palucca. Junge Künstler wie Albert Müller, Werner Neuhaus und Hermann Scherer scharen sich um ihn und gründen die Künstlergruppe "Rot-Blau". Von hier bricht Kirchner auf, um im Dezember 1925, kurz vor Weihnachten, ein letztes Mal nach Deutschland aufzubrechen und die Orte seines Lebens zu besuchen, Chemnitz, Dresden und Berlin. 1931 wird Kirchner Mitglied der Preußischen Akademie der Künste; er ist etabliert und glaubt wohl ab 1925, dem Trend der Zeit folgend, abstrakter, konstruierter und theoretisch begründet Kunst zu schaffen; eine Entwicklung, die über die Mitte der 1930er Jahre andauert. Die große Ausstellung in der Kunsthalle Bern 1933 ist von Erfolg gekrönt, es folgen 1937 Ausstellungen in Detroit und New York. Für Kirchner ist der Wechsel von einem "einfachen" Leben in der Hütte auf der Staffelalp in ein im Vergleich großzügiges Haus "In den Lärchen" und jetzt zu einem vermehrt bürgerlichen Dasein unweit von Davos nach wie vor begleitet von dem Ideal des Einfachen, Unkonventionellen und Authentischen. Für ihn bleibt die Bergwelt und das Leben der Bauern eine Daseinsform, in der Kirchner nur als bewundernder Zuschauer, als sensibel zeichnender und malender Chronist am Rande dieser Berggesellschaft seinen Platz findet. In diesem zweiten Haus auf dem Wildboden bei Davos lebt Kirchner bis zu seinem Tode im Juni 1938 die längste Zeit seines Lebens.
Eine andere Sicht
Hinter der ausgeglichenen, fast verträumt gläsernen Sicht aus dem Atelierfenster auf den Weg hinauf ins Tal nach Sertig-Dörfli könnte sich noch ein sehr aktuelles Ereignis verstecken: die von den Nationalsozialisten vehement vorangetriebene, kulturpolitische Umwälzung. Fernab vom Kampf um die Moderne, deren über die letzten Jahre erfolgte Verleumdung, tatkräftige Beschlagnahme in den Museen und diffamierende Präsentation schließlich in München seit 19. Juli 1937. Diese den Künstler zutiefst irritierenden Ereignisse lassen Kirchners Blick auf die Landschaft mehr als versöhnlich erscheinen. Versöhnlich mit dem bewegten Stückchen Land um sein Haus, seine seit nahezu 20 Jahren gelebte Heimat, die ihm die Kraft verleiht, täglich zu arbeiten, täglich zu zeichnen, zu schnitzen, zu malen. Was Kirchner um diese Geschehnisse wissend in seinen Gedanken bewegt, wissen wir nicht wirklich. An seinen Freund und Sammler Carl Hagemann schreibt er am 28. Juli 1937, sich gegenüber dem Adressaten eher zurückhaltend: „Lieber Herr Doktor, inzwischen ist vieles geschehen, trauriges und auch wohl manches als Rache. Arme deutsche Kunst, die nicht nur in unserer, ja auch früher immer soviel tragen musste. Das Urteil über sie wird ja erst in langer, langer Zeit festliegen. Inzwischen kann man nur arbeiten, arbeiten, so intensiv und gut, wie man nur kann. Es geht mir besser und ich bin im Aufstieg mit der Gesundheit nur noch sehr mager und schwach. Die Darmkrankheit des vergangenen Jahres hat mir viel Kräfte genommen, aber die Arbeit hält mich, ich habe so viel vor“ (Briefe an den Sammler und Mäzen Carl Hagemann, Ostfildern-Ruit 2004, S. 669). [MvL]
Der Weg entlang des Sertigbachs führt unterhalb von Kirchners Wohnhaus vorbei in südöstlicher Richtung hinauf durch das Seitental Sertig. Im Hintergrund rechts der Piz Ducan, links noch angedeutet das Mittaghorn, beide Gipfel knapp über 3.000 Meter. Im Sommer 1924 malt Kirchner das Tal wohl zum ersten Mal, ein Pferd zieht ein Gespann mit zwei Bauern den ansteigenden Weg hinauf zu den vereinzelten Häusern am Rand der Alm, im Übergang zum beginnenden Bergwald. Sommerliche Farben prägen die Bergromantik, es ist die Zeit, in der Kirchner den Bergbauern huldigt mit panoramaartigen, großformatigen Landschaften wie den Gemälden „Alpsonntag“ oder „Sonntag der Bergbauern“.
1937, 14 Jahre später, scheint Kirchners Palette dem hochsommerlichen Wetter und der Temperatur entsprechend gewandelt in ein sattes Grün im Wechsel mit einem den leichten Dunst andeutenden Blau: Eine leise, sengende Nachmittagshitze wirft den Schatten der Bäume über den leicht ansteigenden Weg, der mitten durch sanfte, hügelige Wiesen führt. Auch die beiden unterschiedlich großen Gestalten, vielleicht ein Mann mit Kind, vielleicht eine Frau mit Kind, die des Weges gehen, werfen ihren kurzen Schatten. Alles scheint fast sachlich geordnet; das Nadelholz wächst ohne feste Konturen parallel zum ansteigenden Tal hinauf bis zur Baumgrenze, rahmt den Blick auf das felsige Bergmassiv. Der strahlend blaue Himmel ist belebt von Wolken, die das Grün der Berghänge spiegeln. Kirchner versteht es immer wieder, das so lange, immerfort Gesehene, wie hier aus seinem Atelierfenster, in eine einheitliche Bildstruktur einzubinden, in der das Grün und das Blau mit wenig zart gesetzten orangeroten Lichtkontrasten in einem einzigartigen koloristischen Klang aufgehen.
Der Umzug und neue Energie
Ernst Ludwig Kirchner sieht das friedlich vor ihm liegende Tal mit dem in leichtem Bogen befestigten Weg, dem vom Berg herunterschnellenden Bach zwischen den Nadelbäumen jeden Tag, zu jeder Tageszeit, zu jeder Jahreszeit, mit unterschiedlichsten Wettern bald 14 Jahre. Im September 1923 müssen die Kirchners das Haus „In den Lärchen“ verlassen; sie suchen und finden ein altes Walser Bauernhaus auf dem Wildboden am Eingang zum Sertigtal, das dem Haupteigentümer des Wildbodens, dem Bauern Louis Oberrauch, gehört. Sie bezahlen für Haus und Garten eine Jahresmiete von 240 Franken. Vor ihrem Einzug werden einige Arbeiten am Haus ausgeführt. Auch das Fenster der nach Osten gelegenen Kammer, die Kirchner als Atelier benutzen möchte, wird vergrößert. „Unser neues Häuschen ist eine wahre Freude für uns. Wir werden da gut hausen und in grosser neuer Ordnung. Dies soll wirklich ein Wendepunkt meines Lebens werden. Alles muss in übersichtliche Ordnung gebracht werden und das Häuschen selbst so einfach und schlicht wie nur möglich ausgestattet, aber schön und intim“, schreibt Kirchner am 7. September 1923 in sein Tagebuch (Davoser Tagebuch, Stuttgart 1997, S. 69). Erneut genießt der Künstler einen ungehinderten Blick auf die Bergwelt. Von der schmalen Veranda vor dem Haus kann Kirchner ins Landwassertal sehen, zur Stafelalp hinauf, seinem bisherigen Zuhause, hinüber nach Frauenkirch und von der Westseite des freistehenden Hauses in anderer Richtung bis nach Davos Platz.
Der Wildboden, eine ebene Moräne mit üppigem Graswuchs, ist ein Plateau unterhalb der Siedlung Clavadel. Er befindet sich auf einem Delta des vorgeschichtlichen Davoser Großsees, der sich vom Wolfgangpass bis nach Monstein ausdehnt. „Wilde“, wie der Wildboden genannt wird, weil er den kalten Nordwinden ausgesetzt ist, und so das Haus der Kirchners im Winter nicht nur oft von hohem Schnee umgeben ist und somit auch auf die beschwerliche Bewirtschaftung des Inneren Einfluss nimmt. Kirchners Energie bleibt hiervon unberührt: Er richtet sich im oberen Stock ein Malatelier und eine Druckwerkstatt ein und im angrenzenden Stall ein Bildhaueratelier. Den Zaun vor dem Haus schmückt er mit selbst geschnitzten Figuren. Kirchner wird weltzugewandt, er besucht die Cafés von Davos, fährt nach Basel, Chur und Zürich, veröffentlicht Aufsätze, nimmt an Ausstellungen teil und korrespondiert unermüdlich mit seinen Ärzten, mit einem großen Kreis von Persönlichkeiten der Kunstszene, die ihn auch besuchen, unter anderem Gustav Schiefler, Carl Hagemann, Alfred Döblin, Fritz Winter, Oskar Schlemmer, Jan Wiegers, der Kunsthändler Curt Valentin, der Museumsdirektor Wilhelm R. Valentiner und die Tänzerin Gret Palucca. Junge Künstler wie Albert Müller, Werner Neuhaus und Hermann Scherer scharen sich um ihn und gründen die Künstlergruppe "Rot-Blau". Von hier bricht Kirchner auf, um im Dezember 1925, kurz vor Weihnachten, ein letztes Mal nach Deutschland aufzubrechen und die Orte seines Lebens zu besuchen, Chemnitz, Dresden und Berlin. 1931 wird Kirchner Mitglied der Preußischen Akademie der Künste; er ist etabliert und glaubt wohl ab 1925, dem Trend der Zeit folgend, abstrakter, konstruierter und theoretisch begründet Kunst zu schaffen; eine Entwicklung, die über die Mitte der 1930er Jahre andauert. Die große Ausstellung in der Kunsthalle Bern 1933 ist von Erfolg gekrönt, es folgen 1937 Ausstellungen in Detroit und New York. Für Kirchner ist der Wechsel von einem "einfachen" Leben in der Hütte auf der Staffelalp in ein im Vergleich großzügiges Haus "In den Lärchen" und jetzt zu einem vermehrt bürgerlichen Dasein unweit von Davos nach wie vor begleitet von dem Ideal des Einfachen, Unkonventionellen und Authentischen. Für ihn bleibt die Bergwelt und das Leben der Bauern eine Daseinsform, in der Kirchner nur als bewundernder Zuschauer, als sensibel zeichnender und malender Chronist am Rande dieser Berggesellschaft seinen Platz findet. In diesem zweiten Haus auf dem Wildboden bei Davos lebt Kirchner bis zu seinem Tode im Juni 1938 die längste Zeit seines Lebens.
Eine andere Sicht
Hinter der ausgeglichenen, fast verträumt gläsernen Sicht aus dem Atelierfenster auf den Weg hinauf ins Tal nach Sertig-Dörfli könnte sich noch ein sehr aktuelles Ereignis verstecken: die von den Nationalsozialisten vehement vorangetriebene, kulturpolitische Umwälzung. Fernab vom Kampf um die Moderne, deren über die letzten Jahre erfolgte Verleumdung, tatkräftige Beschlagnahme in den Museen und diffamierende Präsentation schließlich in München seit 19. Juli 1937. Diese den Künstler zutiefst irritierenden Ereignisse lassen Kirchners Blick auf die Landschaft mehr als versöhnlich erscheinen. Versöhnlich mit dem bewegten Stückchen Land um sein Haus, seine seit nahezu 20 Jahren gelebte Heimat, die ihm die Kraft verleiht, täglich zu arbeiten, täglich zu zeichnen, zu schnitzen, zu malen. Was Kirchner um diese Geschehnisse wissend in seinen Gedanken bewegt, wissen wir nicht wirklich. An seinen Freund und Sammler Carl Hagemann schreibt er am 28. Juli 1937, sich gegenüber dem Adressaten eher zurückhaltend: „Lieber Herr Doktor, inzwischen ist vieles geschehen, trauriges und auch wohl manches als Rache. Arme deutsche Kunst, die nicht nur in unserer, ja auch früher immer soviel tragen musste. Das Urteil über sie wird ja erst in langer, langer Zeit festliegen. Inzwischen kann man nur arbeiten, arbeiten, so intensiv und gut, wie man nur kann. Es geht mir besser und ich bin im Aufstieg mit der Gesundheit nur noch sehr mager und schwach. Die Darmkrankheit des vergangenen Jahres hat mir viel Kräfte genommen, aber die Arbeit hält mich, ich habe so viel vor“ (Briefe an den Sammler und Mäzen Carl Hagemann, Ostfildern-Ruit 2004, S. 669). [MvL]
320
Ernst Ludwig Kirchner
Sertigweg, 1937.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 400.000 Ergebnis:
€ 1.465.000 (inkl. Käuferaufgeld)
Ihre Lieblingskünstler im Blick!
- Neue Angebote sofort per E-Mail erhalten
- Exklusive Informationen zu kommenden Auktionen und Veranstaltungen
- Kostenlos und unverbindlich