In die ungewöhnlich fruchtbaren Dresdner Jahre, in denen die jungen Künstler sich die künstlerische Basis erarbeiten, die später ihren Ruhm begründen soll, fällt auch die Entstehungszeit dieser Zeichnung. Die radikale Abkehr von dem, was an den Kunstakademien der Zeit unter Aktzeichnung verstanden wird, ist in der sehr freien Auffassung abzulesen. Auch diese hervorragende Zeichnung der Liegenden, wie auch der Akt auf der Rückseite des Blattes, sind im Zusammenhang mit den von den "Brücke"-Künstlern so genannten "Viertelstundenakten" zu sehen. In einem kurzen, aber äußerst kreativen Schaffensprozess verwirklicht Kirchner das momentan Erlebte. Die Sicherheit des Striches, der keine noch so kleine individualisierende Note erlaubt, wird kongenial durch die Wahl weniger, farblich ausdrucksstarker Linien ergänzt. Die lila Kontur, orangene Haare und schwarze Beine sind als wirkungsvoller Affront gegen eine herrschende Lehrmeinung zu verstehen. Die Bevorzugung reiner unvermischter Farben ist als ein besonderes Merkmal für Arbeiten der "Brücke"-Künstler kennzeichnend. Komplementärfarben werden in der Komposition direkt nebeneinandergesetzt. Das soll den Ausdruck vertiefen, auf den es den Expressionisten besonders ankommt. Die schöne Zeichnung ist somit nicht nur die äußerst gelungene, weil konzentrierte Fixierung einer liegenden Figur im Raum, sondern auch Programm und Dokumentation dessen, was die Künstler der "Brücke" bewegen wollten.