356
Franz von Stuck
Der Engel des Gerichts, Um 1922.
Öl auf Holz
Schätzung:
€ 100.000 Ergebnis:
€ 127.000 (inklusive Aufgeld)
Der Engel des Gerichts. Um 1922.
Öl auf Holz.
Unten rechts der Mitte signiert. Verso betitelt, bezeichnet, nummeriert sowie mit altem, schwer leserlich handschriftlich bezeichnetem (Besitzer-)Etikett. 105,5 x 117,5 cm (41,5 x 46,2 in).
• Eindrucksvolles Motiv mit Bezug auf Stucks ersten großen Erfolg als Künstler mit dem „Wächter des Paradieses“.
• Charakteristische, dunkelglühende Farbigkeit vom Meister des Symbolismus, die dem Geschehen psychologische Prägnanz verleiht.
• Faszinierende Interpretation und gewagte Aktualisierung des jahrhundertealten Motivs im rebellischen Zeitgeist der Jahrhundertwende.
• Seit Entstehung in Privatbesitz, nun erstmals auf dem Auktionsmarkt verfügbar.
• Über 20 Jahre lang als Dauerleihgabe im Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz.
• Werke des Münchner ‚Malerfürsten‘ befinden sich in internationalen Sammlungen wie dem Musée d'Orsay, Paris, im Metropolitan Museum of Art, New York sowie in der Eremitage, St. Petersburg.
PROVENIENZ: Aus dem Nachlass des Künstlers (seither in Privatbesitz).
AUSSTELLUNG: Münchner Kunstausstellung, Glaspalast, München, 1.6.-30.9.1922, Nr. 2622 (m. Abb.).
Schönemann & Lampl, München, 1924 (aus dem Besitz des Künstlers).
Frühjahrsausstellung, Preußische Akademie der Künste, Berlin, Mai-Juni 1926, Nr. 258.
Franz von Stuck. Gemälde, Zeichnung, Plastik aus Privatbesitz, Galerie der Stadt Aschaffenburg, 26.2.-24.8.1994; Augustinermuseum, Freiburg i. Br., 6.5.-17.7.1994; Städtische Galerie, Rosenheim, 7.8.-11.9.1994, Kat.-Nr. 40 (m. Abb.).
Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz, Dauerleihgabe (2001-2024).
LITERATUR: Heinrich Voss, Franz von Stuck 1863-1928. Werkkatalog der Gemälde mit einer Einführung in seinen Symbolismus, WVZ-Nr. 551/303 (m. SW-Abb.)
- -
Anton Sailer, Franz von Stuck. Ein Lebensmärchen, München 1969, S. 45 (farbiger Ausschnitt).
Bernd Feiler, Der Blaue Reiter und der Erzbischof. Religiöse Tendenzen, christlicher Glaube und kirchliches Bekenntnis in der Malerei Münchens von 1911 bis 1925, Diss. München 2002, S. 151f. (m. Abb.).
Öl auf Holz.
Unten rechts der Mitte signiert. Verso betitelt, bezeichnet, nummeriert sowie mit altem, schwer leserlich handschriftlich bezeichnetem (Besitzer-)Etikett. 105,5 x 117,5 cm (41,5 x 46,2 in).
• Eindrucksvolles Motiv mit Bezug auf Stucks ersten großen Erfolg als Künstler mit dem „Wächter des Paradieses“.
• Charakteristische, dunkelglühende Farbigkeit vom Meister des Symbolismus, die dem Geschehen psychologische Prägnanz verleiht.
• Faszinierende Interpretation und gewagte Aktualisierung des jahrhundertealten Motivs im rebellischen Zeitgeist der Jahrhundertwende.
• Seit Entstehung in Privatbesitz, nun erstmals auf dem Auktionsmarkt verfügbar.
• Über 20 Jahre lang als Dauerleihgabe im Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz.
• Werke des Münchner ‚Malerfürsten‘ befinden sich in internationalen Sammlungen wie dem Musée d'Orsay, Paris, im Metropolitan Museum of Art, New York sowie in der Eremitage, St. Petersburg.
PROVENIENZ: Aus dem Nachlass des Künstlers (seither in Privatbesitz).
AUSSTELLUNG: Münchner Kunstausstellung, Glaspalast, München, 1.6.-30.9.1922, Nr. 2622 (m. Abb.).
Schönemann & Lampl, München, 1924 (aus dem Besitz des Künstlers).
Frühjahrsausstellung, Preußische Akademie der Künste, Berlin, Mai-Juni 1926, Nr. 258.
Franz von Stuck. Gemälde, Zeichnung, Plastik aus Privatbesitz, Galerie der Stadt Aschaffenburg, 26.2.-24.8.1994; Augustinermuseum, Freiburg i. Br., 6.5.-17.7.1994; Städtische Galerie, Rosenheim, 7.8.-11.9.1994, Kat.-Nr. 40 (m. Abb.).
Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz, Dauerleihgabe (2001-2024).
LITERATUR: Heinrich Voss, Franz von Stuck 1863-1928. Werkkatalog der Gemälde mit einer Einführung in seinen Symbolismus, WVZ-Nr. 551/303 (m. SW-Abb.)
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Anton Sailer, Franz von Stuck. Ein Lebensmärchen, München 1969, S. 45 (farbiger Ausschnitt).
Bernd Feiler, Der Blaue Reiter und der Erzbischof. Religiöse Tendenzen, christlicher Glaube und kirchliches Bekenntnis in der Malerei Münchens von 1911 bis 1925, Diss. München 2002, S. 151f. (m. Abb.).
Franz von Stuck beschäftigt sich in seinem Œuvre wie kaum ein anderer Künstler mit den großen Erzählungen der Menschheit. Das menschliche Wesen und seine Existenz, sein Werden und Vergehen mit all dem psychischen Empfindungsgehalt, das diese seit den Anfängen der Zivilisation formt, stehen im Zentrum des Interesses. Franz von Stuck gelingt es auf faszinierende Weise, in den sowohl antiker Mythologie als auch alttestamentarischen Urerzählungen und literarischen Stoffen entnommenen Figuren diese überzeitlichen Themen in seinen Gemälden zu verewigen. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist in Europa in der fortschreitenden Moderne, der Technisierung, Mechanisierung und kulturellen Verfeinerung eine Stimmung zu spüren, die Höhe- und Endpunkt zugleich in sich trägt. Eine morbide, dekadente Lust am Schaurigen lässt gleichermaßen Motive von Anfang und Ende, Paradies und Inferno in extremer emotionaler Spannung nebeneinander existieren. Lebensfroher Vitalismus spiegelt sich in Stucks spielenden Faunen und Nixen, zugleich finden sich aber auch Darstellungen existenzieller Bedrohung. Seine Figuren sind stets Urbilder und Archetypen, ganz wie sie die zeitgenössische Psychologie zu entdecken beginnt und in Kunst und Literatur zu finden sucht. Dabei ergründet er sämtliche Empfindungen, die das menschliche Seelenleben erfüllen: Liebe, zarte Intimität der Familie, spielerische Erotik, Leidenschaft, Sehnsucht, Wut und Aggression, Furcht und Schrecken machen ihn zu einer Art großem Dramatiker, der mit großer Erzählkunst und Theatralik auf die Psyche der Betrachtenden einwirkt.
So ist es auch möglich, dass biblisch-christlichem Personal neben mythologischen Figuren dieselbe übergreifende Bedeutung zukommt, ohne dass dies religiöse Autorität beansprucht. Zunächst hatte sich Stuck nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule in München einen Namen als Zeichner gemacht, der von 1880 bis 1887 für die humoristischen Münchner „Fliegenden Blätter“ arbeitet sowie den diversen Mappenwerken mit Allegorien, Emblemen, Karten und Vignetten in der Manier der Neorenaissance und des Neobarock leichte, unterhaltsame Kost liefert. Kleine, harmlose Putten und Amoretten bevölkern hier noch seine neckisch-erotische Bildwelt. Ende der 1880er Jahre beginnt er, sich mit der Ölmalerei zu beschäftigen, und betritt mit dem großformatigen Gemälde „Wächter des Paradieses“ (Museum Villa Stuck, München) selbstbewusst als junger 26-jähriger Künstler die Bühne. Mit dem imposanten, wuchtigen Engel, der von überirdischem Licht umfangen mit dem flammenden Schwert die Pforte zum himmlischen Paradies bewacht gelingt Stuck auf der Ausstellung im Münchner Glaspalast der Durchbruch. Das Werk wird mit der Goldmedaille ausgezeichnet und vielerorts lobend besprochen. Der Erzengel Michael, verantwortlich für die Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies, wird hier als kraftstrotzender, erotisch aufgeladener Jüngling präsentiert, in dessen Gesichtszügen man den jungen Stuck selbst erkennen kann. Die Eigentümlichkeit dieses Gemäldes liegt in der impressionistischen Malweise und der Helligkeit der Palette in Kombination mit dem traditionsreichen biblischen Sujet, das auf völlig neue Weise und außerhalb des gewöhnlichen Kontexts interpretiert wird. Neben einer ebenso monumentalen „Vertreibung aus dem Paradies“ (1890, Musée d’Orsay, Paris) wird anschließend die Figur der von der Schlange verführten und nun selbst zur Verführerin gewordenen ersten Frau Eva ab 1890 zum meistgemalten und international erfolgreichsten Motiv der „Sünde“ in Stucks weiterer Laufbahn.
Gegen Ende seiner Laufbahn nimmt sich Stuck, der 1928 verstirbt, den Erzengel erneut vor. Ist der wehrhafte schöne Engel anfangs noch der verheißungsvolle Türöffner für den jungen Maler, scheint er jetzt an der Schwelle zu einer neuen Zeit zu stehen. Michael bewacht nicht nur das Paradies, er stürzt auch den rebellierenden Engel Luzifer in die irdische Verbannung und sorgt schließlich als kriegerischer Anführer der Heerscharen Gottes am Tage des Jüngsten Gerichts für die Durchsetzung der Richtsprüche bei der Trennung von Gut und Böse. Als Bildmetapher entspricht das Jüngste Gericht somit auch der aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert herüberreichenden dualistischen Weltsicht. Vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher evolutionärer Erkenntnisse und der polemisch formulierten ‚Abstammung des Menschen vom Affen’ ist das einzige Kriterium der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier der freie Wille, die freie Entscheidung und das Gewissen, das das menschliche Wesen in seiner Essenz ausmacht – ebenfalls ein Motiv, das Stuck zuvor schon malerisch aufgegriffen hatte. Nach den sicherlich als apokalyptisch wahrgenommenen Kriegsjahren verwundert eine solche anders geartete Beschäftigung mit der Figur des Erzengels also nicht. Als theatralisch-visionärer Impuls zur Inszenierung darf der Text der Offenbarung des Johannes gelten, der in der sechsten Posaune die Ankunft eines Engels beschreibt: „er war von einer Wolke umhüllt und der Regenbogen stand über seinem Haupt. […] Er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken auf das Land und rief laut, so wie ein Löwe brüllt.“ (Offb 10,1–3) Die Verfinsterung der Gestirne taucht in der Rede über die Endzeit und seine Wiederkehr auf, die Christus am Ölberg hält und die in sprachgewaltiger, eindrücklicher Poesie im Evangelium wiedergegeben wird: „Denn wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein“ (Mt 24,27); es wird sich „die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. […] Er wird seine Engel unter lautem Posaunenschall aussenden und sie werden die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, von einem Ende des Himmels bis zum andern.“ (Mt 24,29–31) Solche visionären Vorstellungen inspirieren die Künstler seit jeher und liefern die Vorlagen, die Stucks Fantasie beflügeln. Seinem Erzengel verleiht er ebenfalls eine goldene Rüstung, wie sie in den großartigsten Darstellungen des Jüngsten Gerichts an ihrem Höhepunkt im 15. Jahrhundert oftmals gezeigt wird.
Stucks Vision der letzten Tage schwankt zwischen tiefstem Schrecken und der damit verbundenen Hoffnung auf den Anbruch einer neuen gerechteren und vollendeten Zeit, wie ihn ja im Grunde auch das Jüngste Gericht zur Folge hat. Auch die Interpretationen von Stucks einstigem Schüler Wassily Kandinsky um 1911 über endzeitliche Motive wie das Jüngste Gericht oder die Sintflut sind positiv gefärbte Visionen des Anbeginns eines neuen Zeitalters. Sie imaginieren den Sieg einer geistigen Ordnung über das Materielle, womit wesentliche Impulse seiner Hinwendung zur völligen Abstraktion in die Wege geleitet werden. Er schließt damit an theosophische Zukunftsutopien wie die der bekannten Esoterikerin Helena Blavatsky an, die das 21. Jahrhundert als Epoche ankündigte, in der „die Erde ein Himmel sein werde im Vergleich zu dem, was gegenwärtig ist.“ (Zit. nach: Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern o. J., S. 43) Auch Stuck mag mit solchen theosophischen Ideen in Berührung gekommen sein, jedenfalls verkehrte er mit dem Hauptprotagonisten des Münchner Okkultismus und der Parapsychologie Albert von Schrenck-Notzing. Untergangs- und Neuordnungsszenarien waren besonders um die Jahrhundertwende ein in unterschiedlichen Disziplinen viel diskutiertes Thema. Nach den Kriegserfahrungen, dem Einsturz aller bisherigen Gewissheiten und der Neuordnung Europas scheint die Apokalypse nunmehr überstanden. Wie ein furchtbares, dennoch reinigendes Gewitter und zugleich als zukünftige Warnung gestaltet sich das Ende einer Epoche und der Eintritt in das neue Jahrhundert. Weniger als Verkünder eines Strafgerichts als in seiner Funktion als Wachrufender zur Auferstehung lässt Stuck den Engel erscheinen. Vor den naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts zur Entstehung der Erde und der Evolution liest sich das Werk auch wie eine zweite Schöpfungsgeschichte, beginnend mit der Trennung von Land und Wasser, bei der sich unter sintflutartigem Regen elektrische Spannungen entladen und das erste Leben aus dem Urschlamm hervorkriecht. Wie eine schmerzensreiche Geburt erblicken die sich aus der Erde lösenden Gestalten das hoffnungsvolle Symbol des Regenbogens, der hier wie ein ewiger Kreis des Werdens und Vergehens hinter dem goldenen Engel erscheint. In kraftvoller Symbolik verbindet Stuck hier aus christlich-religiösem Kontext herausgelöste universelle Bildformeln zu einer Aussage, die, mit Stucks eigenen Worten, „nur das Rein-Menschliche, das Ewig-Gültige“ (zit. nach: Ausst.-Kat. Sünde und Secession. Franz von Stuck in Wien, Wien 2016, S. 90) vor Augen hat. [KT]
So ist es auch möglich, dass biblisch-christlichem Personal neben mythologischen Figuren dieselbe übergreifende Bedeutung zukommt, ohne dass dies religiöse Autorität beansprucht. Zunächst hatte sich Stuck nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule in München einen Namen als Zeichner gemacht, der von 1880 bis 1887 für die humoristischen Münchner „Fliegenden Blätter“ arbeitet sowie den diversen Mappenwerken mit Allegorien, Emblemen, Karten und Vignetten in der Manier der Neorenaissance und des Neobarock leichte, unterhaltsame Kost liefert. Kleine, harmlose Putten und Amoretten bevölkern hier noch seine neckisch-erotische Bildwelt. Ende der 1880er Jahre beginnt er, sich mit der Ölmalerei zu beschäftigen, und betritt mit dem großformatigen Gemälde „Wächter des Paradieses“ (Museum Villa Stuck, München) selbstbewusst als junger 26-jähriger Künstler die Bühne. Mit dem imposanten, wuchtigen Engel, der von überirdischem Licht umfangen mit dem flammenden Schwert die Pforte zum himmlischen Paradies bewacht gelingt Stuck auf der Ausstellung im Münchner Glaspalast der Durchbruch. Das Werk wird mit der Goldmedaille ausgezeichnet und vielerorts lobend besprochen. Der Erzengel Michael, verantwortlich für die Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies, wird hier als kraftstrotzender, erotisch aufgeladener Jüngling präsentiert, in dessen Gesichtszügen man den jungen Stuck selbst erkennen kann. Die Eigentümlichkeit dieses Gemäldes liegt in der impressionistischen Malweise und der Helligkeit der Palette in Kombination mit dem traditionsreichen biblischen Sujet, das auf völlig neue Weise und außerhalb des gewöhnlichen Kontexts interpretiert wird. Neben einer ebenso monumentalen „Vertreibung aus dem Paradies“ (1890, Musée d’Orsay, Paris) wird anschließend die Figur der von der Schlange verführten und nun selbst zur Verführerin gewordenen ersten Frau Eva ab 1890 zum meistgemalten und international erfolgreichsten Motiv der „Sünde“ in Stucks weiterer Laufbahn.
Gegen Ende seiner Laufbahn nimmt sich Stuck, der 1928 verstirbt, den Erzengel erneut vor. Ist der wehrhafte schöne Engel anfangs noch der verheißungsvolle Türöffner für den jungen Maler, scheint er jetzt an der Schwelle zu einer neuen Zeit zu stehen. Michael bewacht nicht nur das Paradies, er stürzt auch den rebellierenden Engel Luzifer in die irdische Verbannung und sorgt schließlich als kriegerischer Anführer der Heerscharen Gottes am Tage des Jüngsten Gerichts für die Durchsetzung der Richtsprüche bei der Trennung von Gut und Böse. Als Bildmetapher entspricht das Jüngste Gericht somit auch der aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert herüberreichenden dualistischen Weltsicht. Vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher evolutionärer Erkenntnisse und der polemisch formulierten ‚Abstammung des Menschen vom Affen’ ist das einzige Kriterium der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier der freie Wille, die freie Entscheidung und das Gewissen, das das menschliche Wesen in seiner Essenz ausmacht – ebenfalls ein Motiv, das Stuck zuvor schon malerisch aufgegriffen hatte. Nach den sicherlich als apokalyptisch wahrgenommenen Kriegsjahren verwundert eine solche anders geartete Beschäftigung mit der Figur des Erzengels also nicht. Als theatralisch-visionärer Impuls zur Inszenierung darf der Text der Offenbarung des Johannes gelten, der in der sechsten Posaune die Ankunft eines Engels beschreibt: „er war von einer Wolke umhüllt und der Regenbogen stand über seinem Haupt. […] Er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken auf das Land und rief laut, so wie ein Löwe brüllt.“ (Offb 10,1–3) Die Verfinsterung der Gestirne taucht in der Rede über die Endzeit und seine Wiederkehr auf, die Christus am Ölberg hält und die in sprachgewaltiger, eindrücklicher Poesie im Evangelium wiedergegeben wird: „Denn wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein“ (Mt 24,27); es wird sich „die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. […] Er wird seine Engel unter lautem Posaunenschall aussenden und sie werden die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, von einem Ende des Himmels bis zum andern.“ (Mt 24,29–31) Solche visionären Vorstellungen inspirieren die Künstler seit jeher und liefern die Vorlagen, die Stucks Fantasie beflügeln. Seinem Erzengel verleiht er ebenfalls eine goldene Rüstung, wie sie in den großartigsten Darstellungen des Jüngsten Gerichts an ihrem Höhepunkt im 15. Jahrhundert oftmals gezeigt wird.
Stucks Vision der letzten Tage schwankt zwischen tiefstem Schrecken und der damit verbundenen Hoffnung auf den Anbruch einer neuen gerechteren und vollendeten Zeit, wie ihn ja im Grunde auch das Jüngste Gericht zur Folge hat. Auch die Interpretationen von Stucks einstigem Schüler Wassily Kandinsky um 1911 über endzeitliche Motive wie das Jüngste Gericht oder die Sintflut sind positiv gefärbte Visionen des Anbeginns eines neuen Zeitalters. Sie imaginieren den Sieg einer geistigen Ordnung über das Materielle, womit wesentliche Impulse seiner Hinwendung zur völligen Abstraktion in die Wege geleitet werden. Er schließt damit an theosophische Zukunftsutopien wie die der bekannten Esoterikerin Helena Blavatsky an, die das 21. Jahrhundert als Epoche ankündigte, in der „die Erde ein Himmel sein werde im Vergleich zu dem, was gegenwärtig ist.“ (Zit. nach: Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern o. J., S. 43) Auch Stuck mag mit solchen theosophischen Ideen in Berührung gekommen sein, jedenfalls verkehrte er mit dem Hauptprotagonisten des Münchner Okkultismus und der Parapsychologie Albert von Schrenck-Notzing. Untergangs- und Neuordnungsszenarien waren besonders um die Jahrhundertwende ein in unterschiedlichen Disziplinen viel diskutiertes Thema. Nach den Kriegserfahrungen, dem Einsturz aller bisherigen Gewissheiten und der Neuordnung Europas scheint die Apokalypse nunmehr überstanden. Wie ein furchtbares, dennoch reinigendes Gewitter und zugleich als zukünftige Warnung gestaltet sich das Ende einer Epoche und der Eintritt in das neue Jahrhundert. Weniger als Verkünder eines Strafgerichts als in seiner Funktion als Wachrufender zur Auferstehung lässt Stuck den Engel erscheinen. Vor den naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts zur Entstehung der Erde und der Evolution liest sich das Werk auch wie eine zweite Schöpfungsgeschichte, beginnend mit der Trennung von Land und Wasser, bei der sich unter sintflutartigem Regen elektrische Spannungen entladen und das erste Leben aus dem Urschlamm hervorkriecht. Wie eine schmerzensreiche Geburt erblicken die sich aus der Erde lösenden Gestalten das hoffnungsvolle Symbol des Regenbogens, der hier wie ein ewiger Kreis des Werdens und Vergehens hinter dem goldenen Engel erscheint. In kraftvoller Symbolik verbindet Stuck hier aus christlich-religiösem Kontext herausgelöste universelle Bildformeln zu einer Aussage, die, mit Stucks eigenen Worten, „nur das Rein-Menschliche, das Ewig-Gültige“ (zit. nach: Ausst.-Kat. Sünde und Secession. Franz von Stuck in Wien, Wien 2016, S. 90) vor Augen hat. [KT]
356
Franz von Stuck
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