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6
Ernst Ludwig Kirchner
Hockende, 1910.
Holz, farbig bemalt
Schätzung:
€ 700.000 Ergebnis:
€ 4.290.000 (inklusive Aufgeld)
Hockende. 1910.
Holz, farbig bemalt.
Henze 1910/15. Standfläche signiert und bezeichnet "Wilmersdorf, Durlacher Strasse 14 II". 37,5 x 18 x 15 cm (14,7 x 7 x 5,9 in).
[SM].
• Skulpturale Arbeiten von Kirchner werden äußerst selten auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten.
• Eine der wenigen erhaltenen Skulpturen des Künstlers – der überwiegende Teil gilt als verschollen.
• Was E. L. Kirchner und Erich Heckel in der Plastik erschaffen ist singulär in der Bildhauerei Anfang des 20. Jahrhunderts – sie brechen noch radikaler als in der Malerei mit den Sehgewohnheiten ihrer Zeit.
• Ein Werk von herausragender Lebendigkeit und Dynamik innerhalb seines skulpturalen Œuvres.
• Das Interesse des Künstlers für Tanz und Bewegung durchzieht sein gesamtes Werk.
Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.
PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946).
Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer, Stuttgart (1954).
Wolfgang und Else Ketterer, Stuttgart (seit spätestens 1964).
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel Lugt 6032, 1977 von den Vorgenannten erworben).
AUSSTELLUNG: Das Ursprüngliche und die Moderne, Akademie der Künste, Berlin, 23.8.-27.9.1964, Kat.-Nr. 96 (m. Abb.).
Ernst Ludwig Kirchner. A Retrospective Exhibition, Seattle Art Museum / Pasadena Art Museum / Museum of Fine Arts, Boston, 1968/1969, Kat.-Nr. 147.
Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938, Nationalgalerie Berlin, 29.11.1979-20.1.1980; Haus der Kunst, München, 9.2.-13.4.1980; Museum Ludwig, Köln, 26.4.-8.6.1980; Kunsthaus Zürich, 20.6.-10.8.1980, Kat.-Nr. 63.
Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 1995-2001).
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Die "Brücke" in Dresden 1905-1911, Dresdner Schloss, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2001-2002, Kat.-Nr. 230 (m. Abb.).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).
LITERATUR: L. de Marsalle, Über die plastischen Arbeiten von E. L. Kirchner, in: Der Cicerone, Nr. 14, Leipzig 1925, S. 695.
Galerie Wolfgang Ketterer, München, 17. Auktion, 1976, Los 770 (m. Abb.).
Annemarie Dube-Heynig, Das Ursprüngliche und die Moderne, Akademie der Künste, Berlin 1984, Kat.-Nr. 96, S. 285.
Annemarie Dube-Heynig, Ernst Ludwig Kirchner. Postkarten und Briefe an Erich Heckel im Altonaer Museum in Hamburg, Köln 1984 (m Abb., Nr. VIII).
Ernst Ludwig Kirchner, Gustav Schiefler, Briefwechsel: 1910-1935/1938, mit Briefen von und an Luise Schiefler und Erna Kirchner, sowie weiteren Dokumenten aus Schieflers Korrespondenz-Ablage, bearb. von Wolfgang Henze, 1990, S. 30-31.
Stephan von der Wiese, Metaphysisches Beefsteak? Zur Kubismus-Rezeption des Expressionismus, in: Ausst.-Kat. 1909-1925 Kubismus in Prag, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 1991, S- 38-43.
Heinz Spielmann (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Sammlung Hermann Gerlinger, Stuttgart 1995, S. 152, SHG-Nr. 146 (m. Abb.).
Heinz Spielmann, Begegnung mit afrikanischer Kunst, in: Katja Schneider u. Hermann Gerlinger (Hrsg.), Vernissage, Heidelberg 1995, 4, S. 29-31.
Wolfgang Henze, Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners. Monographie mit Werkverzeichnis, Wichtrach/Bern 2002, Kat.-Nr. 1910/15 (m. Abb.).
Karin v. Maur, Ernst Ludwig Kirchner. Sein Schaffen als Bildhauer, in: Ausst.-Kat. Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauer, Staatsgalerie Stuttgart, 2003, Kat.-Nr. 6, S. 13-99.
Oliver Kornhoff, Studien zum bildhauerischen Werk der "Brücke". Über den 'zwingenden Rhythmus der im Block geschlossenen Form' bei Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner (Diss.), Freiburg im Br. 2003 (m. Abb., Nr. 5).
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 315, SHG-Nr. 711 (m. Abb.).
Meike Hoffmann, Leben und Schaffen der Künstlergruppe "Brücke" 1905-1913 (Diss.), Berlin 2005 (m. Abb., Nr. 3).
Hanna Strzoda, Die Ateliers Ernst Ludwig Kirchners. Eine Studie zur Rezeption 'primitiver' europäischer und außereuropäischer Kulturen, Petersberg 2006 (m. Abb., Nr. 171).
Anita Beloubek-Hammer, Die schönsten Gestalten der besseren Zukunft. Die Bildhauerkunst des Expressionismus und ihr geistiges Umfeld, Bd. 1-2, Köln 2007 (m. Abb, Nr. 80, 355).
„Nichts bezeichnet den Kulturbruch in der europäischen Bildhauer-Tradition besser als die ,Hockende'. Der Befreiungsschlag aus dem bisherigen Formenrepertoire ist auch heute noch zu spüren: Das macht ihre Modernität aus. Spannungsvoll vereint die Figur in sich die Gegensätze von roh und fein, statisch und bewegt, Skulptur und Bild.“
Günther Gercken
„Heckel schnitzte wieder Holzfiguren; Kirchner bereicherte diese Technik in den seinen durch die Bemalung und suchte in Stein und Zinnguß den Rhythmus der geschlossenen Form.“
Ernst Ludwig Kirchner, Chronik der Brücke, 1913.
Holz, farbig bemalt.
Henze 1910/15. Standfläche signiert und bezeichnet "Wilmersdorf, Durlacher Strasse 14 II". 37,5 x 18 x 15 cm (14,7 x 7 x 5,9 in).
[SM].
• Skulpturale Arbeiten von Kirchner werden äußerst selten auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten.
• Eine der wenigen erhaltenen Skulpturen des Künstlers – der überwiegende Teil gilt als verschollen.
• Was E. L. Kirchner und Erich Heckel in der Plastik erschaffen ist singulär in der Bildhauerei Anfang des 20. Jahrhunderts – sie brechen noch radikaler als in der Malerei mit den Sehgewohnheiten ihrer Zeit.
• Ein Werk von herausragender Lebendigkeit und Dynamik innerhalb seines skulpturalen Œuvres.
• Das Interesse des Künstlers für Tanz und Bewegung durchzieht sein gesamtes Werk.
Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.
PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946).
Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer, Stuttgart (1954).
Wolfgang und Else Ketterer, Stuttgart (seit spätestens 1964).
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel Lugt 6032, 1977 von den Vorgenannten erworben).
AUSSTELLUNG: Das Ursprüngliche und die Moderne, Akademie der Künste, Berlin, 23.8.-27.9.1964, Kat.-Nr. 96 (m. Abb.).
Ernst Ludwig Kirchner. A Retrospective Exhibition, Seattle Art Museum / Pasadena Art Museum / Museum of Fine Arts, Boston, 1968/1969, Kat.-Nr. 147.
Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938, Nationalgalerie Berlin, 29.11.1979-20.1.1980; Haus der Kunst, München, 9.2.-13.4.1980; Museum Ludwig, Köln, 26.4.-8.6.1980; Kunsthaus Zürich, 20.6.-10.8.1980, Kat.-Nr. 63.
Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 1995-2001).
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Die "Brücke" in Dresden 1905-1911, Dresdner Schloss, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2001-2002, Kat.-Nr. 230 (m. Abb.).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).
LITERATUR: L. de Marsalle, Über die plastischen Arbeiten von E. L. Kirchner, in: Der Cicerone, Nr. 14, Leipzig 1925, S. 695.
Galerie Wolfgang Ketterer, München, 17. Auktion, 1976, Los 770 (m. Abb.).
Annemarie Dube-Heynig, Das Ursprüngliche und die Moderne, Akademie der Künste, Berlin 1984, Kat.-Nr. 96, S. 285.
Annemarie Dube-Heynig, Ernst Ludwig Kirchner. Postkarten und Briefe an Erich Heckel im Altonaer Museum in Hamburg, Köln 1984 (m Abb., Nr. VIII).
Ernst Ludwig Kirchner, Gustav Schiefler, Briefwechsel: 1910-1935/1938, mit Briefen von und an Luise Schiefler und Erna Kirchner, sowie weiteren Dokumenten aus Schieflers Korrespondenz-Ablage, bearb. von Wolfgang Henze, 1990, S. 30-31.
Stephan von der Wiese, Metaphysisches Beefsteak? Zur Kubismus-Rezeption des Expressionismus, in: Ausst.-Kat. 1909-1925 Kubismus in Prag, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 1991, S- 38-43.
Heinz Spielmann (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Sammlung Hermann Gerlinger, Stuttgart 1995, S. 152, SHG-Nr. 146 (m. Abb.).
Heinz Spielmann, Begegnung mit afrikanischer Kunst, in: Katja Schneider u. Hermann Gerlinger (Hrsg.), Vernissage, Heidelberg 1995, 4, S. 29-31.
Wolfgang Henze, Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners. Monographie mit Werkverzeichnis, Wichtrach/Bern 2002, Kat.-Nr. 1910/15 (m. Abb.).
Karin v. Maur, Ernst Ludwig Kirchner. Sein Schaffen als Bildhauer, in: Ausst.-Kat. Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauer, Staatsgalerie Stuttgart, 2003, Kat.-Nr. 6, S. 13-99.
Oliver Kornhoff, Studien zum bildhauerischen Werk der "Brücke". Über den 'zwingenden Rhythmus der im Block geschlossenen Form' bei Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner (Diss.), Freiburg im Br. 2003 (m. Abb., Nr. 5).
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 315, SHG-Nr. 711 (m. Abb.).
Meike Hoffmann, Leben und Schaffen der Künstlergruppe "Brücke" 1905-1913 (Diss.), Berlin 2005 (m. Abb., Nr. 3).
Hanna Strzoda, Die Ateliers Ernst Ludwig Kirchners. Eine Studie zur Rezeption 'primitiver' europäischer und außereuropäischer Kulturen, Petersberg 2006 (m. Abb., Nr. 171).
Anita Beloubek-Hammer, Die schönsten Gestalten der besseren Zukunft. Die Bildhauerkunst des Expressionismus und ihr geistiges Umfeld, Bd. 1-2, Köln 2007 (m. Abb, Nr. 80, 355).
„Nichts bezeichnet den Kulturbruch in der europäischen Bildhauer-Tradition besser als die ,Hockende'. Der Befreiungsschlag aus dem bisherigen Formenrepertoire ist auch heute noch zu spüren: Das macht ihre Modernität aus. Spannungsvoll vereint die Figur in sich die Gegensätze von roh und fein, statisch und bewegt, Skulptur und Bild.“
Günther Gercken
„Heckel schnitzte wieder Holzfiguren; Kirchner bereicherte diese Technik in den seinen durch die Bemalung und suchte in Stein und Zinnguß den Rhythmus der geschlossenen Form.“
Ernst Ludwig Kirchner, Chronik der Brücke, 1913.
Über einer sich nach oben leicht verjüngenden runden Plinthe kauert ein weiblicher Akt, der als kompakt ausgearbeitete Figura serpentinata beschrieben werden kann. Der Unterkörper ist nach links gedreht, der Oberkörper nach rechts, der Kopf wiederum nach links. Die Figur ist durch stark angewinkelte, an den Körper gepresste Beine und Arme gekennzeichnet: Die "Hockende" sitzt auf der Plinthe, beide Beine links und rechts vor sich gebeugt, sodass die Füße auf der Basis aufsetzen. Der Körper ist senkrecht nach oben gerichtet, der Kopf etwas zur Seite geneigt und die Arme um diesen herum geschlungen, er schmiegt sich an den empor gehobenen linken Oberarm und auf den nach unten angewinkelten rechten Unterarm. Die rechte Hand bedeckt die rechte Brust, der linke Arm umfasst den prächtigen Haarschopf, sodass beide Arme parallel zur Haar- und Kopfkontur diesen umschlingen.
Die „Hockende“ als wiederkehrendes Motiv
Die Skulptur dieses hockenden weiblichen Aktes aus der einzigartigen Sammlung Gerlinger misst 32,7 Zentimeter in der Höhe und ist rundherum ausgearbeitet, sie entspricht somit der von Rudolf Belling von einer plastischen Arbeit geforderten Raumhaftigkeit und Körperhaftigkeit. Sie ist in Dresden entstanden, wo sie im sogenannten Brücke-Atelier auf einem hohen Baumstamm-Sockel aufgestellt war, hat dann Kirchner nach Berlin begleitet und erscheint somit in vielen Werken Kirchners als Staffage-Figur wie beispielsweise in der Zeichnung "Akt vor Spiegel, in Tub steigend", hier an anderem Ort beschrieben. Durch den markanten Haarschopf ist sie wohl als eine Darstellung von Kirchners Dresdner Lebensgefährtin Dodo zu identifizieren, die Kirchner zu zahlreichen Werken inspiriert hat. Die Skulptur weist noch Bemalungen auf: Dunkel hervorgehoben sind Details wie Haare, Kopfkonturen wie auch Augen, Augenbrauen, Nase und Mund sowie Finger, Brüste und Schambereich, aber auch die Plinthe ist farbig gefasst. Es zeichnet unsere Figur besonders aus, dass die Bemalung derartig gut erhalten ist. In der Oberflächengestaltung äußert sich die Künstlerhand direkt, sie lässt die Bearbeitungsspuren präzise erkennen, sie zeugt von der Kraft des Schaffenden. Jeder Schnitt ist nachvollziehbar. Die Figur ist grob aus dem Holz herausgearbeitet, weist keine "tote Form" auf, umfasst also keine Hohlräume, wie sie von Rudolf Belling von einer Plastik gefordert wurde, sondern ist als kompakte Form aus dem Holzstamm herausgearbeitet. Wie Kirchner dies in einem Holzstamm sah, welche Figur er in einen solchen hineindachte und aus einem solchen herausschnitt, kann man gut anhand einer Zeichnung erkennen, die der Maler und Bildhauer 1913 schuf: "Skizze zu Skulptur", Bleistift und Kreide, 48,5 x 38 cm, Bündner Kunstmuseum, Chur, Henze Abb. 141.
Die Gestaltung von Wohn- und Arbeitstätte als Gesamtkunswerk
Im Atelier an der Berliner Straße 80 in Dresden schuf Kirchner seine erste Wohn- und Arbeitsstätte nach den Vorstellungen des Gesamtkunstwerkes: Gemälde hingen an den Wänden, Textilien nach seinen Entwürfen schmückten die Wände, die Kissen, die Tischdecken und das Sofa; selbst geschnitzte Skulpturen, Einrichtungsgegenstände und Gebrauchsgegenstände befanden sich auf Tischen und Sockeln oder waren als solche im Raum verteilt. Alles war durchgestaltet und floss in die Kunstwerke als Staffage mit ein (eine ausführliche Beschreibung und Untersuchung von Kirchners Ateliers liefert Hanna Strzoda in "Die Ateliers Ernst Ludwig Kirchners – Eine Studie zur Rezeption 'primitiver' europäischer und außereuropäischer Kulturen", Petersberg 2006). Die von Kirchner geschaffenen Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Grafik und Fotografien zeigten diese selbst erzeugten, aus Holz geschälten Werke und Gegenstände, hinter, neben und um die "Hauptdarstellerinnen" herum. Sie umgaben diese und belebten somit den Vorder- und den Hintergrund. Hier trafen sich die Künstler der "Brücke" und schufen gemeinsam die Inkunabeln des deutschen Expressionismus. Dies in einer Umgebung, die als "natürlich" und "ursprünglich" angesehen wurde, und in die auch Artefakte der "Primitiven" aufgenommen wurden. Es ergab sich so eine Wechselwirkung: Figur wurde zu Skulptur und umgekehrt.
Die „Hockende“ als idealer Ausdruck
Die hier beschriebene Skulptur zeigt das "Hocken". Es ist nicht die Darstellung eines weiblichen Aktes in kauernder Körperstellung, sondern die Hieroglyphe des "Hockens" schlechthin, wie sie Kirchner selbst unter seinem Pseudonym "Louis de Marsalle" in seinem Aufsatz über die plastischen Arbeiten von E. L. Kirchner beschrieb. Sie ist aus einem Holzstamm herausgearbeitet und ihre Konturen entsprechen diesem vollkommen: Kirchner hat hier versucht, so wenig wie möglich vom zur Verfügung stehenden Zylinder herauszuhauen, die Umrisse entsprechen einem solchen. Der Bedeutungsperspektive folgend, sind vor allem die Beine und die Arme betont, die in einer S-förmigen Wellenlinie die Skulptur definieren und gestalten. Eine Figur, die durch aneinandergereihte geometrische Figuren gestaltet ist, so wie es von Luis de Marsalle alias Ernst Ludwig Kirchner selbst für die Plastik beschrieben wird. Es sind in unserem Fall vor allem ovoidale Formen, welche die Plastik ausmachen.
Ebenfalls entspricht unsere Figur den Forderungen des "Brücke"-Programms. Von den von Wolfgang Henze im Werkverzeichnis der Plastik Kirchners (Wolfgang Henze, Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners – Monographie mit Werkverzeichnis, Wichtrach/Bern, 2002) 140 identifizierten Werken stellen besonders die während der Dresdner und der Berliner Zeit entstandenen mehr als zur Hälfte weibliche Akte dar. Es war ein besonders bevorzugtes Motiv Kirchners. In ihm fand der Künstler seine ganz eigene Ausdrucksweise. In ihm konnte Kirchner auf ganz eindrucksvolle Weise das "Brücke"-Prinzip der Übersteigerung von Form, Farbe und Gebärde formulieren und zum Ausdruck bringen. Direkt beeinflusst von der ozeanischen und afrikanischen Kunst waren die frühesten Werke nicht, erst um 1909/10 wurden deren Auswirkungen auf die Plastik der "Brücke"-Künstler bemerkbar. Die Übersteigerung von Form und Farbe war also schon davor prägend für deren Kunst.
Kirchners Modifikation der Skulptur
Schon der sogenannte Viertelstundenakt, den die "Brücke"-Künstler ab 1906 entwickelten, prägte die skulpturalen Werke, die in raschen Handgriffen aus dem Holz herausgeschält und -gehauen wurden. Die Oberfläche blieb dabei sehr grob und kantig, zeigte aber doch unverkennbar die Hand des Künstlers. Die Arbeitsschritte blieben in der Skulptur sichtbar, jeder Eingriff hinterließ seine Spur im Material. Jede Skulptur spiegelte die äußeren Abgrenzungen des ursprünglichen Baumstammes wider, aus dem diese geschaffen wurde, und die einzelnen Arbeitsvorgänge, die der Künstler am Holz vornahm. Die darüber aufgetragene farbige Fassung hob die Einwirkungen des Künstlers auf das Material hervor, verstärkte sie – verdeckte sie nicht. Konturen wurden dunkel betont und Flächen in starken Kontrasten voneinander abgegrenzt.
Kirchner schuf mit dieser Skulptur etwas Neues, das so noch nie dagewesen war in der Kunst. Er als Peintre-Sculpteur, als Autodidakt, konnte sich frei machen von den herrschenden akademischen Zwängen und sich frei äußern. Anklänge an frühe Vergangenheit der Gotik und Renaissance sind eher erkennbar als die um ihn herum herrschenden Stildogmen. Die gedrängte Körperhaltung und die Bemalung erinnern eher an mittelalterliche Werke, die starke Drehung des Körpers an die Figura serpentinata der Renaissance.
Die eindrucksvolle Verschmelzung von Malerei und Plastik
Die Plastik nahm in Kirchners Werk eine wichtige und entscheidende Rolle ein, die sich in seinem Werk über die reine Begleiterscheinung hinaus zu einer selbständigen und einflussreichen Gattung entwickelte. Alleine schon die Wechselwirkungen zwischen der Plastik und den anderen Gattungen zeigen, wie wichtig die plastischen Werke für Malerei, Zeichnung und Grafik waren: Je intensiver Kirchner sich mit dem Schnitzen von Figuren und Gegenständen auseinandersetzte, desto skulpturaler wurden seine ins Zweidimensionale übertragenen Figuren. Regelrecht maskenhaft erscheinen nun die Antlitze in seiner Malerei, Zeichnung und Druckgrafik. Kantig wirken die Körper und gedrungen. In ihrer Form und Bewegung übersteigert, mit stark überproportionierten Merkmalen wie Kopf, Arme, Beine und Gesäß, Brüste und Geschlecht, und in der festgehaltenen Position so ausgefallen, dass die Haltung kaum in der Realität hätte eingenommen werden können, mit Überdrehungen in den Gelenken, wie sie nur schwerlich von einem Menschen hätten erreicht werden können. Wir begegnen hier einer Form der Bedeutungsperspektive, wie sie im Mittelalter verbreitet war, alles ordnet sich dem Willen des Künstlers unter, etwas Bestimmtes darstellen zu wollen. Gleichberechtigt ist so im Werk Kirchners die Skulptur mit den anderen Gattungen, was an der verbreiteten und wirkungsstarken Gegenüberstellung zwischen Skulpturen und Modellen in seinen Darstellungen erkennbar ist. Ebenbürtig erscheinen in den Werken Kirchners Darstellungen von plastischen Figuren mit den Darstellungen von lebenden Modellen, sie befruchten sich gegenseitig. Besonders hervorgehoben werden muss die farbige Fassung, die Kirchner seinen Skulpturen verlieh: Ganz im Gegensatz zur hergebrachten Plastik und Skulptur, wie er sie aus vergangenen Jahrhunderten kannte, die vorwiegend ungefasst die Oberfläche des Materials zeigte, bemalte Kirchner seine plastischen Werke, sodass diese auch in der Farbe expressiv wirkten. Die Plastik wurde bei Kirchner wie ein Bildträger genutzt und die Oberfläche wie ein Gemälde farbig gefasst.
Alexandra Henze Triebold
Die „Hockende“ als wiederkehrendes Motiv
Die Skulptur dieses hockenden weiblichen Aktes aus der einzigartigen Sammlung Gerlinger misst 32,7 Zentimeter in der Höhe und ist rundherum ausgearbeitet, sie entspricht somit der von Rudolf Belling von einer plastischen Arbeit geforderten Raumhaftigkeit und Körperhaftigkeit. Sie ist in Dresden entstanden, wo sie im sogenannten Brücke-Atelier auf einem hohen Baumstamm-Sockel aufgestellt war, hat dann Kirchner nach Berlin begleitet und erscheint somit in vielen Werken Kirchners als Staffage-Figur wie beispielsweise in der Zeichnung "Akt vor Spiegel, in Tub steigend", hier an anderem Ort beschrieben. Durch den markanten Haarschopf ist sie wohl als eine Darstellung von Kirchners Dresdner Lebensgefährtin Dodo zu identifizieren, die Kirchner zu zahlreichen Werken inspiriert hat. Die Skulptur weist noch Bemalungen auf: Dunkel hervorgehoben sind Details wie Haare, Kopfkonturen wie auch Augen, Augenbrauen, Nase und Mund sowie Finger, Brüste und Schambereich, aber auch die Plinthe ist farbig gefasst. Es zeichnet unsere Figur besonders aus, dass die Bemalung derartig gut erhalten ist. In der Oberflächengestaltung äußert sich die Künstlerhand direkt, sie lässt die Bearbeitungsspuren präzise erkennen, sie zeugt von der Kraft des Schaffenden. Jeder Schnitt ist nachvollziehbar. Die Figur ist grob aus dem Holz herausgearbeitet, weist keine "tote Form" auf, umfasst also keine Hohlräume, wie sie von Rudolf Belling von einer Plastik gefordert wurde, sondern ist als kompakte Form aus dem Holzstamm herausgearbeitet. Wie Kirchner dies in einem Holzstamm sah, welche Figur er in einen solchen hineindachte und aus einem solchen herausschnitt, kann man gut anhand einer Zeichnung erkennen, die der Maler und Bildhauer 1913 schuf: "Skizze zu Skulptur", Bleistift und Kreide, 48,5 x 38 cm, Bündner Kunstmuseum, Chur, Henze Abb. 141.
Die Gestaltung von Wohn- und Arbeitstätte als Gesamtkunswerk
Im Atelier an der Berliner Straße 80 in Dresden schuf Kirchner seine erste Wohn- und Arbeitsstätte nach den Vorstellungen des Gesamtkunstwerkes: Gemälde hingen an den Wänden, Textilien nach seinen Entwürfen schmückten die Wände, die Kissen, die Tischdecken und das Sofa; selbst geschnitzte Skulpturen, Einrichtungsgegenstände und Gebrauchsgegenstände befanden sich auf Tischen und Sockeln oder waren als solche im Raum verteilt. Alles war durchgestaltet und floss in die Kunstwerke als Staffage mit ein (eine ausführliche Beschreibung und Untersuchung von Kirchners Ateliers liefert Hanna Strzoda in "Die Ateliers Ernst Ludwig Kirchners – Eine Studie zur Rezeption 'primitiver' europäischer und außereuropäischer Kulturen", Petersberg 2006). Die von Kirchner geschaffenen Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Grafik und Fotografien zeigten diese selbst erzeugten, aus Holz geschälten Werke und Gegenstände, hinter, neben und um die "Hauptdarstellerinnen" herum. Sie umgaben diese und belebten somit den Vorder- und den Hintergrund. Hier trafen sich die Künstler der "Brücke" und schufen gemeinsam die Inkunabeln des deutschen Expressionismus. Dies in einer Umgebung, die als "natürlich" und "ursprünglich" angesehen wurde, und in die auch Artefakte der "Primitiven" aufgenommen wurden. Es ergab sich so eine Wechselwirkung: Figur wurde zu Skulptur und umgekehrt.
Die „Hockende“ als idealer Ausdruck
Die hier beschriebene Skulptur zeigt das "Hocken". Es ist nicht die Darstellung eines weiblichen Aktes in kauernder Körperstellung, sondern die Hieroglyphe des "Hockens" schlechthin, wie sie Kirchner selbst unter seinem Pseudonym "Louis de Marsalle" in seinem Aufsatz über die plastischen Arbeiten von E. L. Kirchner beschrieb. Sie ist aus einem Holzstamm herausgearbeitet und ihre Konturen entsprechen diesem vollkommen: Kirchner hat hier versucht, so wenig wie möglich vom zur Verfügung stehenden Zylinder herauszuhauen, die Umrisse entsprechen einem solchen. Der Bedeutungsperspektive folgend, sind vor allem die Beine und die Arme betont, die in einer S-förmigen Wellenlinie die Skulptur definieren und gestalten. Eine Figur, die durch aneinandergereihte geometrische Figuren gestaltet ist, so wie es von Luis de Marsalle alias Ernst Ludwig Kirchner selbst für die Plastik beschrieben wird. Es sind in unserem Fall vor allem ovoidale Formen, welche die Plastik ausmachen.
Ebenfalls entspricht unsere Figur den Forderungen des "Brücke"-Programms. Von den von Wolfgang Henze im Werkverzeichnis der Plastik Kirchners (Wolfgang Henze, Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners – Monographie mit Werkverzeichnis, Wichtrach/Bern, 2002) 140 identifizierten Werken stellen besonders die während der Dresdner und der Berliner Zeit entstandenen mehr als zur Hälfte weibliche Akte dar. Es war ein besonders bevorzugtes Motiv Kirchners. In ihm fand der Künstler seine ganz eigene Ausdrucksweise. In ihm konnte Kirchner auf ganz eindrucksvolle Weise das "Brücke"-Prinzip der Übersteigerung von Form, Farbe und Gebärde formulieren und zum Ausdruck bringen. Direkt beeinflusst von der ozeanischen und afrikanischen Kunst waren die frühesten Werke nicht, erst um 1909/10 wurden deren Auswirkungen auf die Plastik der "Brücke"-Künstler bemerkbar. Die Übersteigerung von Form und Farbe war also schon davor prägend für deren Kunst.
Kirchners Modifikation der Skulptur
Schon der sogenannte Viertelstundenakt, den die "Brücke"-Künstler ab 1906 entwickelten, prägte die skulpturalen Werke, die in raschen Handgriffen aus dem Holz herausgeschält und -gehauen wurden. Die Oberfläche blieb dabei sehr grob und kantig, zeigte aber doch unverkennbar die Hand des Künstlers. Die Arbeitsschritte blieben in der Skulptur sichtbar, jeder Eingriff hinterließ seine Spur im Material. Jede Skulptur spiegelte die äußeren Abgrenzungen des ursprünglichen Baumstammes wider, aus dem diese geschaffen wurde, und die einzelnen Arbeitsvorgänge, die der Künstler am Holz vornahm. Die darüber aufgetragene farbige Fassung hob die Einwirkungen des Künstlers auf das Material hervor, verstärkte sie – verdeckte sie nicht. Konturen wurden dunkel betont und Flächen in starken Kontrasten voneinander abgegrenzt.
Kirchner schuf mit dieser Skulptur etwas Neues, das so noch nie dagewesen war in der Kunst. Er als Peintre-Sculpteur, als Autodidakt, konnte sich frei machen von den herrschenden akademischen Zwängen und sich frei äußern. Anklänge an frühe Vergangenheit der Gotik und Renaissance sind eher erkennbar als die um ihn herum herrschenden Stildogmen. Die gedrängte Körperhaltung und die Bemalung erinnern eher an mittelalterliche Werke, die starke Drehung des Körpers an die Figura serpentinata der Renaissance.
Die eindrucksvolle Verschmelzung von Malerei und Plastik
Die Plastik nahm in Kirchners Werk eine wichtige und entscheidende Rolle ein, die sich in seinem Werk über die reine Begleiterscheinung hinaus zu einer selbständigen und einflussreichen Gattung entwickelte. Alleine schon die Wechselwirkungen zwischen der Plastik und den anderen Gattungen zeigen, wie wichtig die plastischen Werke für Malerei, Zeichnung und Grafik waren: Je intensiver Kirchner sich mit dem Schnitzen von Figuren und Gegenständen auseinandersetzte, desto skulpturaler wurden seine ins Zweidimensionale übertragenen Figuren. Regelrecht maskenhaft erscheinen nun die Antlitze in seiner Malerei, Zeichnung und Druckgrafik. Kantig wirken die Körper und gedrungen. In ihrer Form und Bewegung übersteigert, mit stark überproportionierten Merkmalen wie Kopf, Arme, Beine und Gesäß, Brüste und Geschlecht, und in der festgehaltenen Position so ausgefallen, dass die Haltung kaum in der Realität hätte eingenommen werden können, mit Überdrehungen in den Gelenken, wie sie nur schwerlich von einem Menschen hätten erreicht werden können. Wir begegnen hier einer Form der Bedeutungsperspektive, wie sie im Mittelalter verbreitet war, alles ordnet sich dem Willen des Künstlers unter, etwas Bestimmtes darstellen zu wollen. Gleichberechtigt ist so im Werk Kirchners die Skulptur mit den anderen Gattungen, was an der verbreiteten und wirkungsstarken Gegenüberstellung zwischen Skulpturen und Modellen in seinen Darstellungen erkennbar ist. Ebenbürtig erscheinen in den Werken Kirchners Darstellungen von plastischen Figuren mit den Darstellungen von lebenden Modellen, sie befruchten sich gegenseitig. Besonders hervorgehoben werden muss die farbige Fassung, die Kirchner seinen Skulpturen verlieh: Ganz im Gegensatz zur hergebrachten Plastik und Skulptur, wie er sie aus vergangenen Jahrhunderten kannte, die vorwiegend ungefasst die Oberfläche des Materials zeigte, bemalte Kirchner seine plastischen Werke, sodass diese auch in der Farbe expressiv wirkten. Die Plastik wurde bei Kirchner wie ein Bildträger genutzt und die Oberfläche wie ein Gemälde farbig gefasst.
Alexandra Henze Triebold
6
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