Auktion: 527 / Kunst des 19. Jahrhunderts am 11.06.2022 in München Lot 308


308
Carl Spitzweg
Die Stadtwache, Um 1850/55.
Öl auf Holz
Schätzung:
€ 60.000
Ergebnis:
€ 150.000

(inklusive Aufgeld)
Die Stadtwache. Um 1850/55.
Öl auf Holz.
Wichmann 124. Rechts unten mit dem verwischten Nachlassstempel (Lugt 2307). Verso mit teilw. fragmentierten (Galerie-)Etiketten, rautenförmigem Etikett und Stempel des Malereibedarfs Fritz Schachinger, München. 40,5 x 31 cm (15,9 x 12,2 in).

Wir danken Herrn Detlef Rosenberger, der das Werk im Original begutachtet hat, für die freundliche Auskunft. Das Werk wird in das in Vorbereitung befindliche Werkverzeichnis aufgenommen.

PROVENIENZ: Aus dem Nachlass des Künstlers.
Privatbesitz.
Privatsammlung Baden-Württemberg.

AUSSTELLUNG: Spitzweg-Ausstellung, Moderne Galerie Thannhauser, München, September 1916, Nr. 1 (mit Abb. S. 8, verso mit dem Galerieetikett, Nr. 4504).
Sonderausstellung Carl Spitzweg, Hugo Helbing, Berlin, 20.2.-20.3.1927, Nr. 5 ("Torbogen mit Wachsoldaten").

LITERATUR: Günther Roennefahrt, Carl Spitzweg. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde, Ölstudien und Aquarelle, München 1960, S. 211, Nr. 739 (mit Abb.).

Auf seinen zahlreichen Reisen von München aus in die Dörfer des Umlands, in größere Städte Bayerns und Tirols sowie seinen Aufenthalten in Venedig, Wien und Prag füllt Spitzweg seine Skizzenbücher mit zahlreichen Architekturansichten. Dabei versucht er stets, den charakteristischen Stil der jeweiligen Stadt einzufangen, wie er zum Beispiel begeistert aus Nürnberg schreibt: „Die zackigen Häuser, und Zinnen, die alten Thürme und Brücken sind reizend […] hier ist alles gotisch, die Fenster, Häuser, Kirchen, Thürme, sogar meine zwei Hausfräuleins, denn ich wohne privatier, sind voll Erker, Zinnen, Spitzbögen, Arabesken und Schnörkeln.“ (zit. nach: Siegfried Wichmann, Carl Spitzweg. Verzeichnis der Werke, Stuttgart 2002, S. 26). Der in den Sommermonaten dauerhaft auf Reisen umherschweifende Spitzweg führt zeichnerisch Buch über seine Entdeckungen und zeichnet im süddeutschen und Tiroler-Raum in Memmingen, Bad Tölz, Augsburg, Innsbruck und Bozen. Oftmals positioniert er sich dabei auf dem Marktplatz, dem Zentrum der Städtchen vor Kirche oder Rathaus, auf dem die Bewohner zusammentreffen. Das Gewirr der Fassaden, Giebel, Treppen und Fenster einer über Jahrhunderte einigermaßen willkürlich und ungeplant zusammengewachsenen Architektur scheint ihn dabei künstlerisch besonders zu interessieren. In den Architekturen seiner Werke verschmelzen ebenso die verschiedensten Stile und Epochen, mittelalterliche niedrige Häuschen, aus denen Schornsteine, Dachgauben und Torbogen wachsen, ducken sich neben wuchtigen barocken Türmen und geschwungenen Giebeln. Hieraus ergeben sich helle und dunkle Winkel, Schattenwürfe und hell erleuchtete Partien, die den Gebäuden ihre Lebendigkeit verleihen. Ein wiederkehrender Anblick ist der große Torturm mit Uhr, darunter Reste einer charakteristischen süddeutschen Lüftlmalerei, die vermutlich den heiligen Schutzpatron der Stadt zeigt. Wie auf einer Bühne arrangiert er in dieser Szenerie die Figuren. Auf ihrem erhöhten Posten vor dem Schildhaus beobachtet ein Wachtposten die Straße darunter und den Eingang zur Stadt. Im Schatten der kleinen Bäumchen haben es sich zwei weitere Wachtposten gemütlich gemacht. Am Turm wehen kleine Fahnen, die die Herrschaftszugehörigkeit des Städtchens markieren, wohingegen die Wachtposten mittlerweile keine Kämpfe mehr als die gegen die heißen Strahlen der Mittagssonne und die kaum vergehende Zeit auszutragen haben. Der beinahe wolkenlose klare blaue Himmel, in dem Spitzweg die von ihm besonders geschätzte Farbe so intensiv und flächig wie selten einsetzt, betont die Friedlichkeit und Trägheit der Szene und verleiht ihr eine fast schon italianisierende Atmosphäre. [KT]


Die "Stadtwache" - ein Spitzweg'sches Bilderrätsel?

Am rechten Bildrand sehen wir drei Soldaten vor ihrem Wachhäuschen, welches von zwei Kastanienbäumen eingerahmt ist. Der Kastanienbaum steht auch für die Redewendung „die Kastanien für jemanden aus dem Feuer holen“. Für wen hat, oder soll das Militär das wohl tun?
Sind die Uniformen der Soldaten auf den Kopf gestellte bayerische Uniformen, statt üblicherweise blauem Rock und weißer Hose, oder handelt es sich um die Uniform österreichischer Soldaten, der Ungarischen Linien-Infanterie, wohl aus dem Regiment von Maximilian Joseph König von Bayern? Entsprechende Abbildungen aus Uniformbüchern der Zeit legen dies nahe.
Der Staatsmacht auffällig gegenüber befinden sich drei Pranger, die ebenso zur Interpretation anregen: lesbar zum einen als Drohung gegenüber einem aufmüpfigen Bürgertum, zum anderen ebenso als Mahnung gegenüber der Staatsmacht für die Geschehnisse der Jahre 1848/49. In die Bildtiefe fortschreitend findet sich hinter den Prangern ein Torbogen, der in eine enge kleine Gasse führt. Ein metaphorisches Hindurchschreiten wird angedeutet – ob es in eine neue Zeit ist oder in eine Zukunft der geistigen und sozialen Beengtheit, bleibt offen.
Der Uhr am Turm fehlen Ziffernblatt und Zeiger, als ob es sich um ein Sinnbild des Stillstands handele. Darunter eine verblichene religiöse Lüftlmalerei, zeichenhaft für eine abblätternde Moral der Kirche. Auf dem Turmsims befinden sich drei kleine Flaggen in rot, weiß und blau. Neben möglicherweise den Stadtfarben ist zu denken an die französische Trikolore, hervorgegangen aus der Revolution, die die Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit versinnbildlicht. Die Farbreihung ist hier dagegen umgekehrt und erlaubt einen Verweis auf die verkehrt herum gehisste Flagge als Notfallsymbol, als ob die mit der Trikolore verbundenen Werte erneut in Gefahr wären. Die Trikolore könnte auch aus einfachen Wäschestücken bestehen, um sich nicht in politische Gefahr zu begeben. Über all dem prangt ein prächtiger blau-weißer Himmel, gleichsam als Zeichen der Hoffnung und Versöhnung.
Insgesamt scheint das Werk gespickt mit Symbolen, Anspielungen und Aussagen für die Zeit zwischen 1848/49 und 1859, der sogenannten „Reaktionsära“. Je nachdem wie ein:e Betrachter:in es lesen mag, wird es auch in Jahrzehnten noch Freude und neue Sichtweisen bereiten. Aber gehen Sie doch selbst auf schmunzelnde Entdeckungsreise!

Hans-Joachim Petzold



308
Carl Spitzweg
Die Stadtwache, Um 1850/55.
Öl auf Holz
Schätzung:
€ 60.000
Ergebnis:
€ 150.000

(inklusive Aufgeld)