Auktion: 530 / Evening Sale / Sammlung Hermann Gerlinger am 10.06.2022 in München Lot 65

 

65
Ernst Wilhelm Nay
Maurische Mädchen, 1948.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 90.000
Ergebnis:
€ 400.000

(inklusive Aufgeld)
Maurische Mädchen. 1948.
Öl auf Leinwand.
Scheibler 412. Links unten signiert und datiert. Verso signiert, datiert und betitelt. 90 x 60,5 cm (35,4 x 23,8 in). [CH].
Bis zum 7. August 2022 widmet die Hamburger Kunsthalle den Arbeiten E. W. Nays eine groß angelegte Retrospektive, die anschließend auch im Museum Wiesbaden und dem MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg zu sehen sein wird.

• Qualitativ herausragendes Gemälde vom Höhepunkt der "Hekate-Bilder" (1945-1948), dem Übergang von der abstrahierten Figuration in die konsequente Abstraktion.
• Das Gemälde "Maurische Mädchen" ist erfüllt von den heftigen, brennenden Farben - einer ganz von der Farbe getragenen Bildsprache.
• Nay entwickelt hier ein Vokabular, in dem bereits Kreis- und Spindelform enthalten sind, die für Nays spätere Scheiben- und Augenbilder so kennzeichnend sind.
• Eine Arbeit mit beeindruckender internationaler Ausstellungshistorie, u. a. Teil der 1985 groß angelegten Ausstellung "German Art in the 20th Century" in der Royal Academy of Arts in London.
• Mit dem vergleichbaren "Hekate"-Bild "Gelbe Sitzende" aus demselben Jahr ist Nay im Entstehungsjahr auf der 24. Biennale in Venedig vertreten.
• Vergleichbare "Hekate"-Gemälde befinden sich u. a. in der Pinakothek der Moderne, München, der Nationalgalerie Berlin, dem Sprengel Museum, Hannover, und dem Museum Ludwig, Köln
.

PROVENIENZ:
Galerie Günther Franke, München (1959).
Sammlung Prinz Franz von Bayern, München.
Galerie Thomas, München.
Privatsammlung Rheinland (1979 vom Vorgenannten erworben).
Seitdem in Familienbesitz.

AUSSTELLUNG:
Ernst Wilhelm Nay, Galerie Günther Franke, München, 1.10. bis November 1948, Kat.-Nr. 10 (m. Abb.).
E. W. Nay, Kunstverein in Hamburg, Hamburg, 3.4.-2.5.1955.
E. W. Nay. Peintures, Aquarelles, Gravures aux sucre 1938-1958, Galerie Les Contemporains, Brüssel, 25.4.-15.5.1958, Kat.-Nr. 5 (auf der Leinwand mit handschriftlich nummeriertem Etikett).
German Art in the 20th Century. Painting and Sculpture 1905-1985, Royal Academy of Arts, London, 11.10.-22.12.1985, Kat.-Nr. 210 (auf der Rahmenrückseite mit dem Ausstellungsetikett).
Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert, Staatsgalerie Stuttgart, 8.2.-27.4.1986, Kat.-Nr. 208.
Ernst Wilhelm Nay. Die Hofheimer Jahre 1945-1951, Städtische Galerie im Städel, Frankfurt am Main, 24.2.-23.5.1994; Museum der bildenden Künste, Leipzig, 9.6.-21.8.1994, Kat.-Nr. 37 (m. Abb., S. 98, auf der Rahmenrückseite mit einem entsprechenden Transportetikett).

LITERATUR:
Werner Haftmann, E. W. Nay, Köln 1960, S. 127 u. S. 134 (m. Abb. 36).
Aurel Scheibler, Ernst Wilhelm Nay. Werkverzeichnis der Ölgemälde, Bd. I, Köln 1990, S. 272, Kat.-Nr. 412 (m. Abb.).
Werner Haftmann, E. W. Nay, Köln 1991, S. 138f. und S. 148 (m. Abb. Nr. 48, S. 143).
Yule F. Heibel, Reconstructing the Subject. Modernist Painting in Western Germany, 1945-1950, Princeton 1995, S. 3 (m. Abb. Nr. 1).
Friedrich Weltzien, E. W. Nay – Figur und Körperbild. Kunst und Kunsttheorie der vierziger Jahre, Berlin 2003, S. 200 u. 240.

"Der Versuch, die Hekate-Bilder (1945-48) über ihre Titel zu analysieren, wäre wohl ein vom Künstler kaum erwünschter Eingriff in sein Werk, da Nay selbst den Sinn und Inhalt seiner Hekate-Bilder durch eine merkwürdige Titelgebung verschleiert hat."
Elisabeth Nay-Scheibler, in: E. W. Nay. Die Hofheimer Jahre 1945 bis 1951, Frankfurt a. M. 1994, S. 69.

"Seine kraftvollen, farbintensiven Bilder gelten als Brücke zwischen der Kunst vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, zwischen Expressionismus, Abstraktion und einer freien gestischen Malerei nach 1945, zwischen deutscher und internationaler Moderne."
Pressemitteilung der Hamburger Kunsthalle anlässlich ihrer aktuellen Retrospektive, zit. nach: www.hamburger-kunsthalle.de/ausstellungen/ernst-wilhelm-nay.

Nach Ende des Krieges, den Ernst Wilhelm Nay als Kartenzeichner in Frankreich verbringt, kehrt er nicht nach Berlin zurück, sondern in das idyllische Hofheim am Taunus. Auf Vermittlung der Künstlerin und Galeristin Hanna Bekker vom Rath bezieht er das verwaiste Atelier von Ottilie Roederstein, eine deutsch-schweizerische Malerin, die 1937 in Hofheim verstorben ist. Die Bilder Nays, die dort in den sechs Jahren seiner Verweildauer entstehen, sind erfüllt von heftigen, brennenden Farben. Eine ganz von der Farbe getragene Bildsprache, die zunächst noch der Figuration verpflichtet bleibt, kulminiert 1945-1948 in den sogenannten Hekate-Bildern. Ernst Gosebruch, der 1937 entlassene Direktor des Museum Folkwang in Essen, vergibt dieser an den antiken Mythos angelehnten Werkphase 1948 nach dem Gemälde "Tochter der Hekate I" spontan diesen Titel, der sicherlich zurecht die Anbindung als Merkmal dieser Phase akzentuiert. Ausgangspunkt der Hekate-Phase sind von einer Figur respektive einem Figurenpaar beherrschte Bilder, wobei sich Nay durchaus an Picassos kubistisch geprägtem Menschentypus der dreißiger und frühen vierziger Jahre orientiert. Als Ziel seines künstlerischen Schaffens beschreibt er in einem Brief vom 28. Dezember 1945 an den Freund und Sammler Erich Meyer nun die Aktivierung des Bild-Raumes durch die Farbe: "Meine Bilder sind stark farbig und vielfarbig und sehr malerisch-frei gemalt. Ich bin gerade dabei, wieder einen Sprung vorwärtszutun. Farbige Dynamik, Flächenrhythmus, Ornament und Relief, das waren bisher meine Mittel, um den Raum der Malerei zu gestalten. Dafür habe ich äußerst vorsichtig bisher davon abgesehen - wie es auch dem Geiste meiner Kunst, die das magische, zauberische jetzt stärker betont als bisher, – Raumtiefen mit diesen Mitteln darzustellen. Das muß jetzt geschehen." (zit. nach: E. W. Nay 1902-1968. Bilder und Dokumente, München 1980, S. 90)

Es geschieht mit einer raffinierten Erweiterung der Palette. Bisher noch nie verwendete Farbmischungen tauchen auf. Oberfläche und Tiefe des Kolorits erschließen den Bildern ein reiches, höchst differenziertes Spektrum. Der Farbauftrag, hier und dort leicht pastos, verstärkt eine eigentümlich kostbare Reliefwirkung, als handele es sich um höchst fremdartige Gebilde. "Übersehen wir nämlich die Hauptwerke dieses Jahres 1948, so lassen sich Vorstufen, Parallelen, gerungen, die sich um das 'tableau-manifeste' gruppieren und es sogar in der malerischen übertreffen, unschwer feststellen. Die Maurischen Mädchen in ihrer farbigen über Braun, Goldocker und Gelb gestimmten Brillanz und der Kostbarkeit ihres Dekors halten noch die Verbindung zu der strahlenden Bilderreihe der auslaufenden Hekateperiode. Aber der Bildmechanismus ist übersehbarer geworden, die Raumfigur planer und präziser, die Form größer und ruhiger. Leise beginnt sich im Formalen die Schärfe des 'Hirten' anzukündigen", so Werner Haftmann über das Werk seines Freundes (zit. nach: E. W. Nay, Köln 1960, S. 134).

Das Gemälde "Maurische Mädchen" ist ein ganz aus der Farbe heraus gemaltes Bild. Den mit dem Nay‘schen Formenvokabular vertrauten Betrachtern erschließt sich im Einzelnen eine fächerförmige Hand, offene Augen, die auf ein Gesicht deuten, in der Mitte unten zwei nebeneinanderliegende gerundete Formen, welche die Rückenansicht einer Figur heraufbeschwören? Ein Vokabular, in dem bereits Kreis- und Spindelform enthalten sind, die für Nays spätere Scheiben- und Augenbilder so kennzeichnend sind. [MvL]



65
Ernst Wilhelm Nay
Maurische Mädchen, 1948.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 90.000
Ergebnis:
€ 400.000

(inklusive Aufgeld)