Auktion: 520 / Evening Sale am 18.06.2021 in München Lot 393

 

393
Jörg Immendorff
Cinderella, 1996.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 100.000
Ergebnis:
€ 275.000

(inkl. Käuferaufgeld)
Cinderella. 1996.
Öl auf Leinwand.
Gohr II.378. Rechts unten signiert und datiert sowie unten mittig (als Teil der Darstellung) betitelt. Verso auf der umgeschlagenen Leinwand monogrammiert und mit der Werknummer 185 bezeichnet. 250 x 250 cm (98,4 x 98,4 in).
[CH].
• Jörg Immendorff zählt zu den bedeutendsten und international erfolgreichsten deutschen Nachkriegskünstlern.
• Monumentalwerk, das die geballte Essenz von Immendorffs Kunst enthält.
• Eine der sehr seltenen großformatigen Arbeiten auf dem Auktionsmarkt.
• Seit Entstehung ohne Besitzerwechsel.
• Vergleichbare Arbeiten aus diesem Werkzyklus befinden sich bspw. in der Sammlung Essl, Klosterneuburg/Wien, und im Museum Ludwig, Köln.
• Zuletzt zeigen das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, wie auch das Haus der Kunst in München große Retrospektiven (2018/19)
.

PROVENIENZ: Privatsammlung (direkt vom Künstler erworben).

AUSSTELLUNG: Jörg Immendorff. The Rake's Progress, Gl. Holtegaard/Breda-Fonden, Holte/Dänemark, 21.3.-25.4.1999, S. 55 (mit Abb., S. 45).

"Ein gutes Bild löst sich beim Betrachter ein. Ein gutes Bild muss Magie erzeugen."
Jörg Immendorff, zit. nach: Michael Köhler, Jörg Immendorff: Der Dirigent mit dem Pinsel, NDR Online.

Jörg Immendorff gilt als einer der wichtigsten und international erfolgreichsten deutschen Künstler der Nachkriegszeit. In den 1960er Jahren studierte er bei Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie, ab 1996 lehrte er dort selbst. Seit mehr als 50 Jahren werden seine Werke in nationalen und internationalen Ausstellungen gezeigt, u.a. 1972 und 1982 auf der documenta 5 und 7 in Kassel, 1976 auf der 37. Biennale in Venedig und später im Museum of Modern Art, New York (1996 und 2006), im Museum Ludwig, Köln (2004), in der Neuen Nationalgalerie, Berlin (2005) und in der Central Academy of Fine Arts, Peking (2017). Zuletzt widmeten ihm sowohl das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, als auch das Haus der Kunst in München große Retrospektiven (2018/19).

Immendorffs farbintensive, figurative Bildwelten konfrontieren uns mit einer Fülle von Symbolen, Erzählsträngen und kunsthistorischen Bezügen. Seine Gemälde funktionieren oft wie Bilderrätsel, die den Betrachter spielerisch dazu einladen, sich einen Reim auf sie zu machen. In "Cinderella" sind dies ein inkongruentes Selbstporträt des Künstlers, der sich als Frau ausgibt, eine skulpturale Wiedergabe von Théodore Géricaults "Floß der Medusa" (1819), eine riesige Meereslandschaft, die den Bildrand überwuchert, und das Zitat eines jedem Kind bekannten Märchens.

In der Mitte des Bildes thront die dreidimensionale Wiedergabe von Géricaults Gemälde "Floß der Medusa", das 1819 als Reaktion auf die schreckliche Geschichte der 150 Menschen entsteht, die nach dem Untergang der "Medusa" 1816 auf einem kleinen Floß gestrandet waren. Als es 13 Tage später den Senegal erreichte, waren bis auf Fünfzehn alle umgekommen. Einhundertachtzig Jahre später beschließt Immendorff, die Spuren dieser Katastrophe aus den Tiefen des Meeres zu heben, um sie aus dem Schleier der Geschichte zu befreien. Hatte Géricaults Gemälde für den politischen Schiffbruch Frankreichs gestanden, dessen ruderlose Politiker auf eine nationale Katastrophe zusteuerten, so deutet Immendorff mit "Cinderella" an, dass die Führer, die das Schiff des gerade wiedervereinigten Deutschlands steuern, in der gleichen Gefahr schweben. Wie das "Floß der Medusa" ist somit auch "Cinderella" ein "engagiertes Gemälde", das allerdings fast alle Spuren des Realismus vermissen lässt. Stattdessen bedient sich Immendorff des Vehikels des grotesk-komischen Humors, um mit seinen erfinderischen Formen das kollektive Bewusstsein zu thematisieren: grotesk im Sinne der frechen Überhöhung eines "ready-made"-Motivs, sodass es subversiv wird; komisch, weil Immendorff die Kraft kennt, Vulgarität mit kritischer Intelligenz zu mischen um erhellendes Lachen zu erzeugen. Beide Qualitäten treten erstmals in seiner Baby-Art (1966/67) hervor. Die cartoonartigen Agit-Prop-Bilder der 1970er Jahre, die daraus entstehen, sollten bald nicht nur die burlesken Kompositionen von Martin Kippenberger helfen hervorzubringen, sondern auch die schräge, aber eindringliche Qualität vieler von Neo Rauchs besten Bildern.

Eine große Seelandschaft füllt einen Großteil des Hintergrunds von Immendorffs "Cinderella". Im rauen blauen Wasser sehen wir nicht nur ein umgestürztes Floß, sondern auch eine weibliche Figur, die sich an dessen Ränder klammert. Am Grund schwimmen die Reste eines skulptierten Adlers, im oberen Teil des Bildes dümpelt eine Flasche mit einer Botschaft. Ihr gegenüber sind deutlich die Worte "Volkswerft GmbH" zu erkennen. Sie verweisen auf einen Skandal um die Veruntreuung von Ostgeldern durch die Stralsunder Volkswerft (Vulkan-Konzern), der in dem Jahr, in dem Immendorff "Cinderella" malt, an die Oberfläche schwimmt. Der blaue Fisch, den wir in der Nähe von Immendorffs Modell des Floßes der Medusa nach Luft schnappen sehen, scheint sich sogar aus der Meereslandschaft herausgedreht zu haben, als wolle er den vergifteten Gewässern dieser Geschichten entfliehen.

"Cinderella" zeugt auch von Immendorffs Meisterschaft in der Selbstdarstellung. In einem transparenten Negligé und mit einer riesigen Perücke hat Immendorff seinen Kopf so verschraubt, dass er absurderweise über seinem üppigen Gesäß erscheint. Diese Art der bewussten Darstellung seiner selbst als etwas, das so anders ist, dass es zum Lachen anregt, zitiert auch zentrale Strategien seiner Aktionen der sechziger Jahre, die sich in seinen "Café Deutschland"-Bildern fortsetzen. Auch das große feuerrote Haarteil, das Immendorff in "Cinderella" trägt, verrät seine neue intensive Beschäftigung mit der satirisch-sozialkritischen Kunst von William Hogarth (1697-1764). Es stammt aus Hogarths "The Five Orders of Periwigs" (1761), einer Radierung, die sich über die ausgefallenen Frisurenmoden des 18. Jahrhunderts mokiert. Erstmals setzt sich Immendorff 1993 mit Hogarths Werken auseinander, als er das Bühnenbild und die Kostüme für die Salzburger Sommerfestspiele für Igor Strawinskys Oper "The Rake's Progress" entwirft.
Fast alle Bilder und Skulpturen Immendorffs entspringen der Überzeugung des Künstlers von der produktiven Kraft des Spiels. In der Überzeugung, dass "der Mensch, um wirklich zu spielen, spielen muss wie ein Kind", machte sich Immendorff daran, diese dadaistische Qualität in der deutschen Kunst nach 1945 zu reaktivieren. Und so tritt er in "Cinderella" als Patin der weiblichen Märchenfigur auf. Den Pinsel hat er hier gegen einen funkelnden Zauberstab getauscht und hält ihn in die Höhe, als wolle er damit sagen, dass es seine Aufgabe als Künstler sei, die wesentlichen Fakten schlummernder Geschichten in den Sinn zu zwinkern. So enthält das hier angebotene Monumentalwerk die geballte Essenz von Immendorffs Kunst: Selbstporträt und augenzwinkernde Selbstironie, zeitpolitischer Kommentar und kunsthistorischer Rekurs, Ernsthaftigkeit und freche Provokation, grelle, unmissverständliche Figuration und verwirrende, spektakuläre Skurrilität - eine Malerei auf der Bühne von Immendorffs eigenem Atelier.



393
Jörg Immendorff
Cinderella, 1996.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 100.000
Ergebnis:
€ 275.000

(inkl. Käuferaufgeld)