Auktion: 479 / Klassiker des 20. Jahrhunderts I am 08.12.2018 in München Lot 869

 

869
Max Bill
strebende kräfte einer kugel, 1985/86.
Stein. Schwedischer Bohusgranit
Schätzung:
€ 250.000
Ergebnis:
€ 300.000

(inkl. Käuferaufgeld)
strebende kräfte einer kugel. 1985/86.
Stein. Schwedischer Bohusgranit.
Unikat. 75 x 110 x 75 cm (29,5 x 43,3 x 29,5 in).
Die Fertigstellung der vorliegenden Skulptur erfolgte 1985/86.
Nach Aussage der max, binia + jakob bill stiftung sind vier weitere Versionen mit unterschiedlicher Größe und anderem Material bekannt: In dem von dem Künstler für sich selbst erbauten Wohn- und Atelierhaus in Zumikon in der Schweiz ist eine große, aus rosafarbenem Porinogranit gefertigte Version der hier angebotenen Arbeit beheimatet. Eine aus hellerem sardischen Granit gefertige Arbeit befindet sich in der ständigen Sammlung des Kunstmuseums Liechtenstein, Vaduz. Eine etwas kleinere Version aus schwarzem Granit beherbergt die Daimler Art Collection und eine Version ebenfalls kleineren Durchmessers aus schwarzem Granit gehört Dr. Jakob Bill, dem Sohn des Künstlers, und wird in naher Zukunft im "Giardino Max Bill" bei der Casorella in Locarno aufgestellt werden.

Mit einer Fotoexpertise von Herrn Dr. Jakob Bill, max, binia + jakob bill stiftung, Adligenswil, Schweiz, vom 5. August 2011.

PROVENIENZ: Privatbesitz des Architekten Prof. Erwin Heinle (1917-2002), Stuttgart, als Geschenk zum 70. Geburtstag 1987 von seinem langjährigen Büropartner Prof. Robert Wischer (1930-2007) erhalten.
Privatsammlung (vom Vorgenannten durch Erbschaft erhalten).

"Kunst und Mathematik, Idee und Axiom sind keine Gegensätze. Ihre Wege erscheinen dem Künstler simultan [..]."
Hans Joachim Müller über Max Bill, zit. nach: Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst 2006, Ausgabe 74, Heft 8, S. 6.

Mit seinen gegenstandslosen, geometrisch-mathematischen Arbeiten gilt Max Bill als einer der international einflussreichsten Vertreter der konkreten Kunst der Nachkriegszeit. Sein Wirken beschränkt sich dabei nicht nur auf die bildende Kunst, sondern betrifft gattungsübergreifend auch das Produktdesign, die Literatur, Kunstkritik, Typografie und Publizistik. Bereits in jungen Jahren prägen ihn die bahnbrechenden Ideen des Bauhauses. Nach seinem Studium an der Züricher Kunstgewerbeschule lernt Bill ab 1927 als Schüler von Wassily Kandinsky, Paul Klee, László Moholy-Nagy und Oskar Schlemmer an der Bauhaus-Hochschule für Gestaltung in Dessau unter Leitung von Walter Gropius. Die intensive Wirkung dieser Lehrjahre zeigt sich auch in seinem lebenslangen Bestreben, mit seinem künstlerischen Schaffen eine gattungsübergreifende Vereinigung von Architektur, Malerei und Plastik zu erreichen. Auch die intensive Beschäftigung mit den Erläuterungen des Malers, Kunsttheoretikers und Vorreiters der konkreten Kunst Theo van Doesburg hinterlassen in den geistigen und künstlerischen Erzeugnissen Max Bills deutliche Spuren und treiben seine Entwicklung weiter voran. Die konkrete Kunst ist für Bill dabei Mittel zum Zweck, seinem Anspruch, "gute und zeitgemäße Formen" zu züchten und "den Anschluss der Kunst an das Leben" zu realisieren, gerecht zu werden. Im Sinne van Doesburgs hält sich Bill in seiner Kunst nur an das, was konkret vorhanden, konkret sichtbar und damit konkret greifbar und erfahrbar ist und bezeichnet seine Arbeiten bereits ab 1936 deshalb nicht als "abstrakt", sondern als "konkret". Es gilt, Kunstwerke zu schaffen, die sich nicht auf die real existierende Wirklichkeit beziehen, nicht deren äußerliche Nachahmung und auch nicht deren Abstrahierung anstreben, sondern allein aufgrund ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten, einer schöpferischen Idee des Künstlers entstehen.
Die hier vorliegende Arbeit "strebende kräfte einer kugel" weiß dies programmatisch zu visualisieren. Zugunsten einer streng geometrischen Exaktheit und Selbstgesetzlichkeit der Form verzichtet Bill auf jegliche Zitate der sichtbaren, figurativen Welt und verwendet nur die hergebrachte Grundform der Kugel, die er dem mathematischen Verfahren der Parallelverschiebung unterzieht. Die Kugel wird entlang ihrer Mittelachse geviertelt, bevor zwei sich genau gegenüberliegende Viertel bei gleichbleibenden Winkeln und Längen in dieselbe Richtung um die Hälfte des Kugeldurchmessers verschoben werden. Durch das nun sichtbare "Innere" der zuvor intakten Kugel entstehen zusätzliche, gerade Oberflächen. Das Werk ist Ausdruck einer harmonischen Komposition aus Form, Farbe, Material und der einst von Max Planck (1858-1947) als "höchste Weisheit" gepriesenen "Richtigkeit und Klarheit einer mathematisch-physikalischen Formel" (W. Grohmann, in: Max Bill. Malerei und Plastik 1928-1968, Kunsthalle Düsseldorf 1968). Die hier umgesetzte Idee, aus einem mathematischen Gedankenkonzept ein Kunstwerk entstehen zu lassen, formuliert Max Bill bereits 1949 in seinem Aufsatz "Die mathematische Denkweise in der Kunst unserer Zeit". Es ist eine der wesentlichen Grundlagen seiner Kunstauffassung. "strebende kräfte einer kugel" verleitet die Fantasie des Betrachters zum Nachmessen, Vergleichen und Nachrechnen und gibt das Geheimnis ihrer Konstruktion und ihren ästhetischen Gehalt erst nach ausgiebiger, dreidimensionaler Betrachtung preis. Mit der außergewöhnlichen Materialästhetik des etwa 920 Millionen Jahre alten schwedischen Bohusgranits beweist die hier angebotene Arbeit die mögliche Vereinigung von mathematisch-geometrischer Strenge sowie form- und farbharmonischer Schönheit.
Bei der hier angebotenen Arbeit handelt es sich um die einzig bekannte, in diesem Material ausgeführte Version von "strebende kräfte einer kugel". Architekt Prof. Erwin Heinle (1917-2002), Stuttgart, erhält die Arbeit als Geschenk zu seinem 70. Geburtstag 1987 von seinem langjährigen Büropartner Prof. Robert Wischer (1930-2007). Über Jahrzehnte befindet sich die Skulptur zwischen den benachbarten Wohnhäusern der beiden Architekten, deren Namen unter anderem mit gemeinsamen Projekten wie dem Olympischen Dorf in München oder den Fernsehtürmen von Stuttgart, Nürnberg und Köln Bekanntheit erlangt. [CH]



869
Max Bill
strebende kräfte einer kugel, 1985/86.
Stein. Schwedischer Bohusgranit
Schätzung:
€ 250.000
Ergebnis:
€ 300.000

(inkl. Käuferaufgeld)