Auktion: 425 / Kunst nach 1945 / Zeitgenössische Kunst am 12./13.06.2015 in München Lot 829

 

829
Lucio Fontana
Concetto spaziale, Attesa, 1960.
Schätzung:
€ 800.000
Ergebnis:
€ 1.465.000

(inkl. Käuferaufgeld)
Concetto spaziale, Attesa. 1960.
Wasserfarbe auf Leinwand, teils mit schwarzer Gaze hinterlegt.
Crispolti 60 T 37. Verso signiert, betitelt und bezeichnet "1+1 = 666" und "Oggi piove!". 81 x 65 cm (31,8 x 25,5 in).
[JS/ATh].
Lucio Fontanas in den frühen 1960er Jahren entstandene "Concetti spaziali" sind die gefragtesten Werke des Künstlers auf dem internationalen Auktionsmarkt und gehören zu den Höhepunkten zahlreicher öffentlicher Sammlungen.
Mit einem Schreiben mit beigelegten Fotografien von Teresita Fontana, Fondazione Lucio Fontana, Mailand, vom 13. November 1990. Die Arbeit ist im Archiv der Fondazione Lucio Fontana, Mailand, unter der Nummer 1796/13 registriert.

PROVENIENZ: Galleria Blu, Mailand (auf dem Keilrahmen mit dem Stempel).
Privatsammlung Köln.
Galerie Handschin, Basel (auf dem Keilrahmen mit dem Etikett).
Privatsammlung Basel.
Galerie Reckermann, Köln.
Privatsammlung Nordrhein-Westfalen (wohl Anfang der 1980er Jahren direkt vom Vorgenannten erworben).

AUSSTELLUNG: Lucio Fontana, Fuji Television Gallery, Tokio, 7.-23.3.1986.

LITERATUR: Enrico Crispolti, Lucio Fontana, Brüssel 1974, Bd. II, S. 92-93 (mit Abb.).
Enrico Crispolti, Lucio Fontana, Mailand 1986, Bd. I, S. 319 (mit Abb.).

Im Jahr 1958 beginnt Fontana seine berühmten Schnitte in die Leinwand zu setzen, er wagt die nur scheinbar brachiale Zerstörung der meist monochromen Leinwände mittels scharfer Messerschnitte. Diese wohl berühmtesten Schöpfungen Fontanas, zu denen auch der vorliegende frühe "Concetto spaziale" zählt, sollten fortan Kunstgeschichte schreiben und gehören heute zu den Höhepunkten bedeutender öffentlicher Sammlungen wie der Peggy Guggenheim Collection in Venedig, des MoMA in New York, der Neuen Nationalgalerie Berlin oder der Pinakothek der Moderne in München. "Meine Kunst ist ganz geprägt von dieser Reinheit, von dieser Philosophie des Nichts, das nicht das Nichts der Zerstörung ist, sondern das Nichts der Schöpfung [..] Und gerade der Schnitt [..] galt nicht der Zerstörung des Bildes, sondern im Gegenteil einer Dimension jenseits des Bildes" (zit. nach: Bettina Ruhrberg, Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, München 1993, S. 3). Durch den in unserem Werk klaffenden Schnitt in die monochrome, fast reinweiß bemalte Leinwand gelingt Fontana also auch in der Tiefe eine Entgrenzung seiner Malerei. Der Eindruck einer Raumausdehnung wird demnach nicht nur an den Bildrändern unserer Arbeit, sondern auch durch die geöffnete Leinwand, an welcher sich der Blick des Betrachters in die geheimnisvolle Tiefe des scheinbar unendlichen Raumes zu verlieren glaubt, zu einem meditativen Fantasieraum gesteigert.
Kunst und Raum
"Concetto spaziale", wörtlich "Raumkonzept", ist weit mehr als Fontanas bevorzugter Werktitel. Der Begriff bringt die ganze Vorstellungswelt des Ausnahmekünstlers auf den Punkt. "Concetto", ein schon seit der Kunsttheorie der Renaissance gebräuchlicher Terminus, meint nichts weniger als "Idea": Kunst als Geistesleistung des begnadeten Genies.
Bei Fontana bezieht sich diese Schöpfungsgenialität auf den "spazio", den Raum. Denn hinter der spektakulären Schockwirkung des zuvor nie Gewagten, der gezielten Zerstörung des Bildträgers, offenbart sich eine subtile Durchdringung von Raum und Werk: In Perforationen, Beklebungen und Schnitten öffnet sich das Bild der Wirklichkeit.
Neue Kunst für eine neue Zeit
Fontana sucht neue, dynamische Bildformen für eine gewandelte Zeit:
"Wir leben im Zeitalter der Physik und Technik. Bemalte Pappe und aufgestellter Gips haben keine Daseinsberechtigung mehr". ("Manifesto Blanco", zit. nach: Carla Schulz-Hoffmann (Hg.), Lucio Fontana, München 1983, S. 48).
Mit seinen Schnittbildern löst Fontana ein, was bei den Futuristen noch im Ideal versickern muss: das Ende des hergebrachten Bildbegriffs. Die Worte des von ihm hoch verehrten Futuristen Boccioni klingen vor diesem Hintergrund visionär:
"Werden wir eines Tages die Malerei aufgeben? .. Ich weiß es nicht .. Vielleicht wird eine Zeit kommen, in der das Leinwandbild nicht mehr ausreicht .. Werden wir uns zur Zerstörung der Kunst, wie sie bis heute geblieben ist, zusammenschließen? Vielleicht! [..] Das einzige wichtige ist, vorwärts zu marschieren!" (Umberto Boccioni, zit. nach: Carla Schulz-Hoffmann (Hg.), Lucio Fontana, München 1983, S. 58).
Fontana geht die entscheidenden Schritte, die zugleich neue Wege eröffnen: Konzeptkunst, Nouveau Réalisme, selbst die Arte Povera wären ohne ihn kaum denkbar. Allen voran die Künstler von "ZERO" verehren Fontana als einen der bedeutendsten Avantgardisten seiner Epoche.
Vom Gestus zur Reinheit
Unser Werk entsteht in der wichtigsten Entwicklungsphase der "Concetti spaziali", in den frühen 1960er Jahren. Nun verabschiedet sich Fontana von der informellen, gestisch anmutenden Spontaneität. An deren Stelle treten höchste Konzentration und Klarheit.
Unser Bild zeigt diesen revolutionären Wandel so exemplarisch wie eindrucksvoll. Die grobe Leinwand strahlt in reinem Weiß, in der Farbe des Lichts - ein Ton ohne eigenen Körper, ohne dingliche Assoziationen. Darin klafft ein einzelner, fallender Schnitt, spannungsvoll ein wenig von der Diagonale abgerückt, und gibt den Blick in ein schwarzes Nichts frei, in einen scheinbar unendlichen Raum. Feierliche Stille, Kontemplation und höchste Suggestivkraft entfalten hier ihre ganze Wirkung.
Geheimnisvolle Tore
Ein metaphysisches Moment ist unserem Schnittbild zu eigen, eine Durchgeistigung, auf die schon der typische Untertitel dieser Jahre verweist: "Attesa", "Erwartung". Der Begriff deutet auf geheimnisvolle Zuständigkeit hin, auf die Ahnung einer kommenden Offenbarung. Unser "Concetto spaziale" öffnet in seinem Schnitt gleichsam ein Tor zu einer anderen, geheimen Welt, auch zur Welt des eigenen Geistes.



829
Lucio Fontana
Concetto spaziale, Attesa, 1960.
Schätzung:
€ 800.000
Ergebnis:
€ 1.465.000

(inkl. Käuferaufgeld)